„SoftGene – wie die Evolution unsere Kultur hervorbringt.“

Peter-Paul Manzel (2023)

Exkurse zum Hauptteil: Emergenz

Emergenz

Eine weitere wichtige Vorbemerkung betrifft die Vorhersage. Letztlich beruht unser gesamtes Denken auf dem Versuch, die Zukunft vorherzusehen und unsere Handlungsoptionen danach auszurichten. Diese Versuche sind notwendig aber begrenzt. Denn es gab und gibt stets Entwicklungen, die etwas nie Dagewesenes, Neues schufen und schaffen – Leben, geformt aus unbelebten Molekülen ist eine dieser geheimnisvollen emergenten Erscheinungen und auch der aus der Komplexität neuronaler Verknüpfungen entstandene menschliche Geist bzw. sein Bewusstsein.

Der von Philosophen geprägte Begriff „Emergenz“ sagt aus, dass aus niederen Seinsstufen höhere entstehen können, die sich durch neue Qualitäten auszeichnen.[1] Schon Aristoteles war klar gewesen, dass das „Ganze“ mehr als die Summe seiner Einzelteile sei. Kurt Gödel bewies, in einem die Mathematik in ihren Grundfesten erschütternden Aufsatz von 1931, dass formallogische Systeme hinreichender Komplexität prinzipiell unvollständig sind. Diesen Beweis kann man als den mathematische Hintergrund für die Emergenz interpretieren. Auch Emergenz ist ein universelles Prinzip. Atome in einer ganz bestimmten Anordnung können plötzlich im Verbund geplante Flugbewegungen ausführen – zum Beispiel als Kranich nach Süden in ein Winterquartier fliegen. Die Bauteile eines beliebigen technischen Gerätes sagten noch nichts über die Fähigkeit des zusammengebauten aus. Zusammen gebaut sind es vielleicht ein Toaster, eine Waschmaschine, ein Atomkraftwerk mit vorher nie dagewesenen Eigenschaften: lecker Tost zu machen, Wäsche zu waschen, Strom zu liefern. Wenn alle Einzelteile eines Autos zusammen arbeiten, entsteht eine völlig neue Fähigkeit, es kann fahren. Die Einzelteile nebeneinander gelegt, haben diese Fähigkeit nicht.

Hier ein eher aussagenlogisches Beispiel anhand von Sprache: {Hund; Postbote; beißt} sind drei Wörter mit jeweils spezifischem Sinn. Durch Komposition, durch die Formulierung eines Satzes, entstehen Informationen, die weit über die Bedeutung der einzelnen Worte hinausreichen: „Postbote beißt Hund.“ Dieser Satz ist nicht nur die Summe der Bedeutungen der einzelnen Worte, er ist zusätzlich eine Nachricht! Die Kompositionalität der Sprache schafft permanent neue zusätzliche Bedeutungen. Und so entstehen sowohl in der Natur wie auch in der Kultur durch Kompositionalität immer neue, nicht vorhersagbare Dinge mit nie zuvor dagewesenen Fähigkeiten.

Die Kompositionalität ist die entscheidende Eigenschaft der Evolution. Mehr noch: Die evolutionäre Kompositionalität wuchs mit der Zeit, evolutionäre Neuerungen eröffneten ihrerseits völlig neue Möglichkeiten. Z.B. brachte erst die Wirtschaftsweise Ackerbau und Viehzucht „die Herstellung von Metallwerkzeugen auf den Weg.“[2] Es ist daher nicht verwunderlich, dass so etwas wie Kultur bei Tieren und vor allem dann beim H. sapiens im Zuge einer Evolution auftauchte. Und das Parsimonie-Prinzip lässt uns, wie gesagt, begründet vermuten, dass diese Kultur wiederum ebenso der Evolution unterliegt.

Im Umkehrschluss folgt aus der Emergenz, dass die Entwicklung des Lebens nur retrospektiv zu verstehen ist, nicht aber prospektiv: Wir können die einzelnen Schritte (retrospektiv) nachvollziehen, die zur Entwicklung z.B. des Fassettenauges von Drosophila melanogaster geführt haben, wir können aber nicht (prospektiv) vorhersagen, wohin sich diese kleine Schwarzbäuchige Fruchtfliege in einer weiteren Million Jahre entwickelt haben wird, denn sie kann dann völlig neue, nie dagewesene Fähigkeiten entwickelt haben. Und diese Unvorhersehbarkeit gilt vor allem auch für die menschliche Kultur.

[1] vgl. dazu auch Peter-Paul Manzel 2002, S. 291 ff.

[2] Spinney 2021, S. 16

© Peter-Paul Manzel

Emergenz –> Die Ganze ist mehr als die Summer der Einzelteile; Softgene sind die Summe der Erfahrungen der Menschheit und damit ein emergentes Phänomen.