Hier nun der Block mit dem Titel:

unsere SoftGene

wie die Evolution unsere Kultur prägt.

Der Begriff „SoftGene“ wir hierbei von mir in Analogie zu der Hypothese von Richard Dawkins über Kulturbausteine – bei ihm „Meme“ genannt – benutzt werden.

das ist eine Chatbot KI, die speziell für das Theam „Softgene“ trainiert ist. It´s a chatbot about „softgenes“.

Or ask my Chatbot:

Worum es in diesem Block geht und warum er gebraucht wird:

Zur Zeit gibt es zwei große Wissenschaftsdomänen, die der Naturwissenschaften und die der Geisteswissenschaften und dazwischen – einen tiefen Graben! Dieser muss dringend zugeschüttet werden, weil komplexe Probleme wie die Klimakatasttrope nur fächerübergreifend gelöst werden können: Wir benötigen physikalisches und meteorologisches Wissen, um die Dynamik der Erderwärmung zu verstehen, geologisches, geographisches und biologisches Wissen, um die Wirkung auf unsere Umwelt zu prognostizieren. Wir benötigen wirtschaftliches, juristisches und soziologisches Wissen und schließlich politisches Know-how, um die Klimaveränderung wirtschaftlich und sozialverträglich zu bewältigen. Und dafür benötigen wir zuvorderst eine fächerübergreifende Theorie und eine solche wird hier vorgestellt.

Ich werde zeigen, dass unsere Kultur eine Erweiterung unserer chemisch kodierten Erbinformationen, der Gene, ist, codiert in „Memen“, oder wie ich sie nennen werde: SoftGene. Gemeint sind mit dem Begriff „Mem“ ursprünglich ganz allgemein verschiedenste Bausteine unserer Kultur: Rechnen, Schreiben, Lesen, Melodien, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen oder wie man einen Geschirrspülautomaten herstellt oder bedient. Wir werden entdecken, dass Gene und „SoftGene“ eng zusammenarbeiten und dass das das eine ohne das andere nicht vorstellbar ist.

Einleitung

Es geht in diesem Buch um nicht weniger, als darum, die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften miteinander zu versöhnen, die sich oft eher desinteressiert, gelegentlich sogar gegenseitig geringschätzend gegenüber stehen. Diese wird immer drängender, denn die komplexen Probleme, die die Menschheit zur Zeit plagen – allem voran der Klimawandel, sind nur mit der gemeinsamen Anstrengung aller Wissenschaften zu bewältigen.

Die Naturwissenschaften verfügen über ein konsistentes und überaus verlässliches Theoriengebäude über die Natur. Im Gegensatz dazu unterliegt die menschliche Kultur scheinbar keinem Regelwerk. Daher entziehen sich menschliche Entscheidungen in einem Kulturraum der Vorhersage. Aber stimmt das wirklich?

Darwin meldete erste Zweifel an, indem er den Menschen in eine Entwicklungsreihe mit Ahnen aus dem Tierreich stellte. Der Mensch sei ausgestattet mit ähnlichen Genen, Organen und Gehirnen, wie sie mindestens bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen zu finden sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Ethologie, der Psychologie und der Hirnforschung zeigen: Der Mensch ist auch geistig gesehen kein Alien auf dieser Welt. Aus Sicht der Biologie hat sich unser Geist zusammen mit dem Körper in einem evolutionären Prozess entwickelt. Der Entwicklungsprozess lässt sich bis zu den Anfängen des Lebens zurückverfolgen. Es ist daher naheliegend, die menschlichen Entscheidungen zumindest nicht gänzlich losgelöst von der Natur zu betrachten – es wird mit dem Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Menschen immer deutlicher, dass auch dem menschlichen Handeln biologische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen.

Wenn wir die Fortschritte der Sozialwissenschaften mit z.B. denen der Medizin vergleichen, sehen wir einen überaus dynamischen Zuwachs in den Heilkünsten und eher mäßige Fortschritte in den Sozialwissenschaften. Edward Wilson führt das auf den Grad der Vernetzung zurück: Während wir in der Heilforschung eine globale Wissensgemeinde mit regem Austausch finden, in der sich Virologen, Epidemiologen, Neurobiologen oder Molekulargenetiker bestens verständigen können, und zu deren Grundverständnis die Chemie genauso gehört, wie die Biologie, ist der Vernetzungsgrad in den Humanwissenschaften eher gering und zum Teil von bitteren ideologischen Streitigkeiten überschattet. Selbst untereinander sind „Anthropologen, Ökonomen, Soziologen und Politwissenschaftler […] in aller Regel nicht imstande, einander zu verstehen oder gar zu ermutigen.“ (Wilson 2000, S. 244). Und des Öfteren grenzen sich diese Kulturwissenschaften bewusst von den Naturwissenschaften ab.

Kultur galt lange als die besondere Errungenschaft, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Wenn aber immer deutlicher wird, dass der Mensch weniger ein geistiges, metaphysisches Wesen, als vielmehr ein natürliches Lebewesen ist, werden auch die Geisteswissenschaftler zwangsläufig immer mehr zu Naturforschern.

Anders herum, gibt es in der Verhaltensforschung einen eindeutigen Trend dahin, auch Tieren eine eigene Kultur zuzugestehen – Biologen werden zu Kulturforschern. Gensteuerung allein kann das Verhaltensrepertoire zumindest bei höher entwickeltem Tieren nicht ausreichend erklären. Zu den Genen treten Kulturbausteine: So ist der Werkzeuggebrauch, lange ein Kriterium, um den Menschen vom Tier zu unterscheiden, mittlerweile bei vielen Tierarten nachgewiesen. Nicht alle dieser Kulturleistungen werden über die Gene an die nächste Generation weitergegeben, sondern werden von Artgenossen übernommen.

Kulturbausteine als biologisches Phänomen zu begreifen, die sich wie die Gene in einer Gemeinschaft vererben, wurde in den 70er Jahren schon einmal von Richard Dawkins zur Diskussion gestellt. Der Versuch scheiterte tragischer Weise, vor allem mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse. Übrig blieb der Begriff „Mem“ für eine sich „viral“ im WWW verbreitenden Nachricht. Gemeint waren bei Dawkins mit dem Begriff „Mem“ ganz allgemein die verschiedensten Bausteine unserer Kultur: Rechnen, Schreiben, Lesen, Melodien, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen oder wie man einen Geschirrspülautomaten herstellt oder bedient. Wir werden entdecken, dass Gene und, wie ich sie in Abgrenzung zu Dawkins nennen werde „SoftGene“, eng zusammenarbeiten und dass das eine ohne das andere nicht vorstellbar ist. Ein neuer Versuch, Erbbausteine (Gene) und Kulturbausteine (Meme) als zusammengehöriges Vermächtnis von Organismen zu begreifen, lohnt sich, weil damit die Kulturwissenschaften anschlussfähig an die Naturwissenschaften werden und – er führt uns zu überraschenden neuen Erkenntnissen über das Verhalten von Menschen.

Einige Vorbemerkungen zur guten Theoriebildung

Heute bezweifeln nur noch wenige Wissenschaftler, dass der menschliche Körper von der Evolution geprägt wurde, sowohl sein Äußeres, wie auch die inneren Organe und natürlich auch sein Gehirn. Ein guter Ausgangspunkt für eine Theorie, die die Natur und die Kultur des Menschen vereint, ist damit die Evolutionstheorie. Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie sehr unser Denken und unsere Kultur von der Evolution geprägt sind, müssen wir zunächst einige grundsätzliche Aspekte unseres Denkens und Handelns untersuchen.

Die Brücke, die wir hier zwischen unserer Natur und unserer Kultur finden werden, besteht aus dem Elementarsten, was das Universum bietet: Information. Gene sind Informationsträger. Der Ort, wo Kultur entsteht und ausgeformt wird, ist das menschliche Gehirn, ein Organ, dass Informationen verarbeitet und speichert. Die Hirnforscher nennen das menschliche Gehirn ein „neuronales Netz“, ein Begriff, der ebenso in der Informatik verwendet wird und auch die Künstlichen Intelligenzen (KI) setzen auf solche Neuronalen Netze auf. Die Informatik lehrt uns, dass Hardware und Software eine Einheit bilden. Wir können heute annehmen, dass unser Denken das Produkt einer speziellen Art von Software ist, die auf einer evolutionär konstruierten „Hardware“, dem Gehirn, aufsetzt. Diese „Software“, die unsere Gedankenwelt hervorbringt, ist an das menschliche Gehirn angepasst. Und es ist der Ort, wo genetische Veranlagung und kulturelle Einflüsse aufeinander treffen. Diese Analogie wird noch überzeugender, seit wir sehen, was eine KI, also ein künstliches neuronales Netz, heute schon zu leisten im Stande ist.

 

Logik-Exkurs

Es ist die wohl erstaunlichste Tatsache dieser Welt, dass wir ihre Gesetzmäßigkeiten verstehen können. Und die Entstehung, der Aufbau und die Funktionsweise des Universums lässt sich nicht nur verstehen, sondern sogar berechnen. Die Mathematik, die uns diese Berechnungen erlaubt, hat die Menschheit in einzelnen Schritten vom einfachsten Kalkül bis zu den kompliziertesten mathematischen Sätzen entwickelt. Dabei baut die gesamte Mathematik auf ein paar wenigen Grundannahmen in einer ununterbrochenen Folge aufeinander auf. Jeder Schritt hin zu höherer Komplexität folgt genau festgelegten Regeln, der formalen Logik. Bei solchen lückenlosen Beweisketten gibt es nun ein grundlegendes Problem, das als Ur-Mantra der formalen Logik gelten kann: „Aus etwas Falschem folgt immer etwas Richtiges.“

Wenn wir davon ausgingen, dass es Hexen gäbe, könnten wir annehmen, dass sie auch üble Dinge anstellen könnten, ohne dass wir verstehen, wie sie das genau machen. Dann könnte man Hexen z.B. für den Tod eines Kindes im Dorf verantwortlich machen, von dem die Dorfbewohner nicht wissen, warum es gestorben ist. Leider sind solche Ansichten über Hexen auch heute noch in einigen Teilen der Welt verbreitet. Und wenn man annimmt, wie es in der frühen Neuzeit im Christentum Glaube war, dass die Seele eines Menschen nur durch seinen Feuertod gereinigt werden könne, war es ein logischer Schluss, Hexen zu verbrennen.

Mal angenommen, der moderne Hexer Bill Gates würde planen, die Angst vor einer COVID-19-Infektion dazu zu benutzen, die Bevölkerung zu einer Impfung gegen das SARS-CoV-2-Virus zu bewegen. Die geldgierigen Geschäftsleute rund um den Microsoft-Gründer würden dabei auch gleich einen winzigen Mikrochip in den Körper injizieren, um die „totale Kontrolle“ über die Menschen zu erhalten. Gates könnte dann seinen lange vorbereiteten Plan zur Entvölkerung der Welt umsetzen. Unter diesen Voraussetzungen, die in einer absurden Verschwörungstheorie während der SARS-CoV-Pandemie verbreitet wurden, wäre es nur logisch, sich mit Händen und Füßen gegen eine Impfung zu wehren. Drittes Beispiel: Wenn wir annehmen würden, dass der Klimawandel ein Mythos von gekauften Wissenschaftlern sei, wäre es nur logisch, gegen jede Politik zu Felde zu ziehen, die die globale Erwärmung eindämmen will.

Es kommt also nicht unbedingt auf die Qualität der logischen Schlussfolgerungen an – die Logik verknüpft lediglich Aussagen miteinander – sondern zunächst und immer auf unsere Grundannahmen, von denen wir ausgehen. Oder mit David Hume (1748 englisch; 1869) gesprochen: „Man sollte billig erwarten, dass in Fragen, welche seit dem Bestehen der Wissenschaften und Philosophie mit Eifer erwogen und verhandelt worden sind, wenigstens über den Sinn der Worte unter den Streitenden Übereinstimmung herrschen, und dass die Anstrengungen von zweitausend Jahren wenigstens ermöglicht hätten, von den Worten zu dem wirklichen und wahren Streitgegenstand überzugehen. Es scheint ja so leicht, genaue Definitionen der in der Untersuchung gebrauchten Ausdrücke zu geben und diese Definitionen, und nicht den leeren Schall der Worte, zum Gegenstand der Untersuchung und Prüfung zu machen. Tritt man indes der Sache näher, so ergibt sich das Entgegengesetzte. Ist eine Streitfrage schon lange verhandelt und noch heute unentschieden, so kann man sicher abnehmen, dass irgend eine Zweideutigkeit im Ausdrucke besteht, und dass die Kämpfer den in ihrem Streite gebrauchten Worten einen verschiedenen Sinn unterlegen; denn die Seelenkräfte gelten von Natur bei Allen als gleich, sonst wäre alles Begründen und Streiten vergeblich.“

Die Naturwissenschaften sind untereinander verknüpft, von der Physik über die Chemie bis zur Hirnforschung und stehen dabei auf einem sicheren Fundament fundamentaler physikalischer Gesetze als grundlegende erste Annahmen. Solch ein Fundament müssen wir auch für die Geisteswissenschaften fordern. Auch diese Wissenschaften können nicht irgendwo bei einem metaphysischen menschlichen Geist ansetzen, sondern sie müssen sich idealer Weise auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften zurückführen lassen. Es gilt daher: Der Pfad zur Weisheit führt uns zunächst nicht nach vorn, sondern ganz zurück zu den Wurzeln unseres Denkens und noch tiefer hinab in die Anfänge des Lebens – und wenn wir schon dabei sind, noch tiefer hinab bis zu Anfang von Allem.

Die gesamte Mathematik fußt auf immer wieder geprüften ersten einfachen Annahmen, ihren Axiomen. Von dort führen aufeinander aufbauende logische Schritte in immer kompliziertere mathematische Gefilde. Wir wissen heute, dass sich das Leben auf der Erde in ähnlicher Weise konstituiert hat, wie die Mathematik. Die Entwicklung des Lebens führte auf der Grundlage einfacher Bausteine und einiger weniger Regeln zu immer komplexeren Organismen. Dabei folgte jeder Schritt hin zu höherer Komplexität einer immanenten chemischen Logik. Und weil das so ist, können wir diese Entwicklung zurückverfolgen bis hin zu den Grundbausteinen der Materie. Eine gute Theorie, die zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vermitteln will, muss sich bis auf diese allerersten Grundlagen zurückverfolgen lassen.

Ockhams Rasiermesser

Die Forderung, dass alle Wissenschaft auf denselben Grundannahmen aufbauen sollte, folgt dem Prinzip der Sparsamkeit (lex parsimoniae). Dieses Prinzip, auch Ockhams Rasiermesser (Occam’s Razor) genannt, ist eine fundamentale Richtschnur, um sich die Welt rational zu erschließen. Es stammt ursprünglich aus der Scholastik, also aus der Denkweise und der Methodik der Beweisführung der mittelalterlichen Gelehrtenwelt. Das lex parsimoniae verlangt von Hypothesen und Theorien eine höchstmögliche Einfachheit. Es besagt, dass wir von verschiedenen möglichen Erklärungen für denselben Sachverhalt der einfachsten Theorie den Vorzug geben sollten. Oder, wie es dem Botaniker und Mediziner Herman Boerhaave zugeschrieben wird: Simplex sigillum veri (Das Einfache ist das Siegel des Wahren). Mit der Forderung der Einfachheit geht außerdem die Forderung der Schnittmengenfreiheit einher: Es darf auf Dauer keine zwei konkurrierenden Theorien für denselben Untersuchungsgegenstand geben.

Das Parsimonie-Prinzip ist universell: Tiere, die mühseligere Wege der Futtersuche als nötig zurücklegen, haben einen deutlichen evolutionären Nachteil. Von zwei möglichen Wegen von A nach B bevorzugen Lichtwellen wie Menschen i.d.R. den kürzeren Weg. Wirtschaftsunternehmen optimieren ihre Herstellungsprozesse nach dem geringstmöglichen technischen Aufwand (bei gleicher Qualität der Erzeugnisse) – immer ist die höchstmögliche Einfachheit (für dasselbe Ergebnis) gefragt.

Ein gegenteiliges Beispiel: Die Kindheitssoziologie nimmt an, die Kindheit sei stets konstruiert und veränderlich (Oertli 2020). Für den Soziobiologen E.O. Wilson ist sie dagegen vorhersehbar und genetisch voreingestellt. Aus diesem Widerspruch zwischen den Gelehrten folgt z.B. der Kulturkampf über das genderneutrale Spielzeug: Neigen Jungs wirklich eher zu technischem und heroischem Spielzeug: Autos, Flugzeugen, Superhelden und Piratenschiffen? Und haben Mädchen von sich aus eine Vorliebe für Barbie-Puppen und plüschige Spielzeug-Wohnzimmern? Oder ist alles nur vorgelebtes Geschlechterklischee? Wer Kinder hat, wird diese Frage i.d.R. anders beantworten, als Genderaktivist:innen ohne Erziehungserfahrung.

Wir sehen hier zwei konkurrierende Theorien zum selben Sachverhalt, die sich gegenseitig ausschließen: Ist die Kindheit stets konstruiert, oder folgt sie biologischen Vorgaben? Die Kindheitssoziologen berufen sich auf geisteswissenschaftliche Annahmen, die Soziobiologen auf (naturwissenschaftliche) Beobachtungen. Beides kann nicht gleichzeitig richtig sein, es würde das Parsimonieprinzip verletzen.

Wenn wir den Menschen nicht als von Gott erschaffen, sondern als biologisches, in die übrige Lebenswelt eingebundenes Wesen ansehen, können wir den Menschen nicht am (fiktiven) Grenzübergang zum kulturschaffenden Wesens als etwas gänzlich Neues definieren. Vielmehr fordert das lex parsimoniae eine übergreifende Theorie von den Naturwissenschaften hin zu den Kulturwissenschaften mit der Evolutionstheorie als die naheliegende verbindende Theorie.

Einen frühen Ansatz in diese Richtung lieferte, wie schon erwähnt, Richard Dawkins in seinem 1976 erschienenen Werk: „The Selfish Gen“ (deutscher Buchtitel: „Das egoistische Gen“), als er den Begriff des „Mems“ einführte. Der Begriff trat dann aber einen recht merkwürdigen Siegeszug an: Er ist heute Allgemeingut in den sozialen Netzen, hat dabei aber eine etwas andere Bedeutung angenommen, als Dawkins vorschlug. Aber irgendwie klingt der Begriff „Mem“ nach „Gen“, und folgte damit der Logik des Sparsamkeitsprinzips. Nach Dawkins verhalten sich Gene und Meme ganz ähnlich, insbesondere unterlägen sie in ähnlicher Form der evolutionären Ausformung und ihr einziges Bestreben sei, egoistisch ihre Verbreitung zu forcieren.

Emergenz

Eine weitere wichtige Vorbemerkung betrifft die Vorhersage von Ereignissen. Letztlich beruht unser gesamtes Denken auf dem Versuch, die Zukunft vorherzusehen und unsere Handlungsoptionen danach auszurichten. Diese Versuche sind prinzipiell begrenzt. Denn es gab und gibt stets Entwicklungen, die etwas nie Dagewesenes, Neues schufen und schaffen. Irdisches Leben, geformt aus unbelebten Molekülen ist eine dieser geheimnisvollen emergenten Erscheinungen. Eine andere ist der aus der Komplexität neuronaler Verknüpfungen entstandene menschliche Geist bzw. das menschliche Bewusstsein.

Der von Philosophen geprägte Begriff „Emergenz“ sagt aus, dass aus niederen Seinsstufen höhere entstehen können, die sich durch neue Qualitäten auszeichnen. Schon Aristoteles war sich darüber im Klaren gewesen, dass das „Ganze“ mehr als die Summe seiner Einzelteile sei. Kurt Gödel bewies in einem die Mathematik in ihren Grundfesten erschütternden Aufsatz von 1931, dass formallogische Systeme hinreichender Komplexität prinzipiell unvollständig sind. Diesen Beweis kann man als den mathematischen Hintergrund für die Emergenz interpretieren. Auch Emergenz ist ein universelles Prinzip. Moleküle in einer ganz bestimmten Anordnung können plötzlich im Verbund geplante Flugbewegungen ausführen – zum Beispiel als Kranich nach Süden in ein Winterquartier fliegen. Die Bauteile eines beliebigen technischen Gerätes sagten noch nichts über die Fähigkeit des Zusammengebauten aus. Zusammengesetzt sind sie vielleicht ein Toaster, eine Waschmaschine, ein Atomkraftwerk mit vorher nie dagewesenen Begabungen: einen lecken Tost zu machen, Wäsche zu waschen, Strom zu liefern. Wenn alle Einzelteile eines Autos zusammenarbeiten, entsteht eine neue Fähigkeit, es kann fahren. Die Einzelteile,  nebeneinander gelegt, werden sich kaum von selbst bewegen.

Hier noch ein einfaches aussagenlogisches Beispiel anhand von Sprache: {beißen; Hund; Postbote;} sind drei Wörter mit jeweils spezifischem Sinn. Durch Komposition, durch die Formulierung eines Satzes, entstehen Informationen, die weit über die Bedeutung der einzelnen Worte hinausreichen: „Postbote beißt Hund.“ Dieser Satz ist nicht nur die Summe der Bedeutungen der einzelnen Worte, er ist zusätzlich eine Nachricht! Die Kompositionalität der Sprache schafft permanent neue zusätzliche Bedeutungen. Und so entstehen sowohl in der Natur wie auch in der Kultur durch Kompositionalität immer neue, nicht vorhersagbare Dinge mit nie zuvor dagewesenen Fähigkeiten. Die Kompositionalität ist eine entscheidende Eigenschaft der Evolution. Mehr noch: Die evolutionäre Kompositionalität wuchs mit der Zeit, evolutionäre Neuerungen eröffneten ihrerseits völlig neue Möglichkeiten.

Im Umkehrschluss folgt aus der Emergenz, dass die Entwicklung des Lebens nur retrospektiv zu verstehen ist, nicht aber prospektiv: Wir können die einzelnen Schritte (retrospektiv) nachvollziehen, die zur Entwicklung z.B. des Fassettenauges von Drosophila melanogaster geführt haben. Wir können aber nicht (prospektiv) vorhersagen, wohin sich diese kleine Schwarzbäuchige Fruchtfliege in einer weiteren Million Jahre entwickelt haben wird, denn sie kann dann neue, nie dagewesene Fähigkeiten entwickelt haben. Und diese Unvorhersehbarkeit gilt auch für die menschliche Kultur, was Sir Karl Popper so ausdrückte: „Die Zukunft wird zuvörderst von technischem Wandel geprägt – aber das Wesen künftiger Entdeckungen besteht nun einmal darin, heute nicht bekannt zu sein.“ (Springer 2020). Und nicht zuletzt stellt sich zur Zeit die Frage, welche neuen Fähigkeiten werden KI´s in unsere Welt bringen – sicher ist nur, wir wissen es noch nicht!

Emulation

Eine letzte Vorbemerkung betrifft die Austauschbarkeit von Hard- und Software. Diese Erkenntnis aus der Informatik benötigen wir, um zu verstehen, dass es auch in der Biologie für dasselbe Problem eine fest verdrahtete (z.B. in den Genen angelegte) oder eine erlernte Lösung geben kann. Betrachten wir als Beispiel ein einfaches mechanisches Rechengerät, einen Abakus. Er besteht aus einem Holzrahmen. In dem Rahmen sind übereinander zehn waagerechte Stäbe angebracht. Auf jeder Stange sind 10 Holzperlen aufgezogen. Mit einem Abakus kann man über das Verschieben dieser Kugeln addieren und subtrahieren.

Heute können Sie auf Ihrem Computer ein Programm aufrufen, (edumedia-sciences.com), dass Ihnen eine interaktive Grafik bietet, die einen Abakus darstellt. Auf dieser Grafik können Sie mit der Maus Kugeln verschieben, wie auf einem materiellen Abakus und auch so rechnen. Es werden nicht nur die Funktionen eines Abakus als Software nachgestellt, sondern auch der Abakus selbst. Das wichtigste aber ist: Dieselben Operationen, „Addieren“ oder „Subtrahieren“, lassen sich sowohl mechanisch als auch elektronisch lösen, für dasselbe Problem gibt es eine Hardware- und eine Software-Lösung.

Auf die Biologie übertragen finden wir den digitalen Code der DNS, der Informationen in vier Nukleotiden codiert: Guanin (G), Thymin (T), Adenin (A) und Cytosin (C). In Zellen wird der DNS-Code dann zunächst in einen RNS-Code übertragen und dann in Proteine übersetzt. „Das heißt, sie verwandeln genetische Informationen in einen physikalischen Vorgang.“ (Nurse 2021, S. 113). Dann können z.B. Protein-Hormone ein Verhalten auslösen oder steuern. Diese Verhaltenssteuerung kann entweder direkt durch die Gene ausgelöst werden, ist also nur von der „Hardware“ abhängig, oder es löst Verarbeitungsprozesse in einem Gehirn aus. Dann wird ein vielleicht ähnliches Verhalten durch eine Art „Software“ emuliert.

Die Verhaltenssteuerung bei höheren Tieren und uns Menschen ist eine Mischform aus genetischen Faktoren und neuronalen Prozessen, ein Zusammenspiel von Hardware und Software, ähnlich wie in einem Computer. Denken ist ein elektrochemischer Prozess des Gehirns, der Muskeln in Bewegung versetzen kann. Die Intensität unserer Gefühle, und damit der Antrieb, wie stark wir etwas vermeiden oder erreichen wollen, hängt dabei von der Menge der ausgeschütteten Neurotransmitter ab, also z.B. von Hormonen.

Kultur als Anpassung der Umwelt

„Kultur“ ist ein Begriff, von dem wir alle intuitiv glauben, zu wissen, was er bedeutet. Kultur bezieht sich im Allgemeinen auf die Übertragung von Wissen, Fähigkeiten, Überzeugungen und Verhaltensweisen innerhalb einer Gesellschaft durch Lernen und Sozialisation. Die Übertragung von Kulturbausteinen ermöglicht es Individuen, neue Fähigkeiten und Technologien zu erlernen.

Der Begriff Kultur leitet sich ursprünglich aus dem Lateinischen ab. Dort bedeutet „cultura“: „Bebauung, Bearbeitung, Bestellung, Pflege“. Cultura wiederum ist eine Ableitung von „colere“: „bebauen, pflegen, urbar machen, ausbilden“. In den Kulturwissenschaften wird der Begriff „Kultur“ fast flächendeckend dem Menschen und nur dem Menschen zugeordnet und in einen Gegensatz zur Natur gesetzt. Wie bei allen Abgrenzungen, die nicht gut funktionieren, führen die Versuche der Abgrenzungen immer wieder zu anderen Ergebnissen, nie aber zu einem Eindeutigen: „Zum einen verstehen unterschiedliche Disziplinen (z.B. die Anthropologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Religions- oder Erziehungswissenschaft) jeweils etwas anderes unter dem Begriff „Kultur“. Zum anderen unterscheidet sich das Verständnis von „Kultur“ sowohl innerhalb einzelner Disziplinen und der Kulturwissenschaften als auch in unterschiedlichen Gesellschaften und sozialen Gruppen.“ (Nünning 2009). Kultur ist dann beispielsweise das, was der Mensch „von sich aus verändert und hervorbringt, während der Begriff Natur dasjenige umfasst, was von selbst ist, wie es ist.“ (wikipedia 01).

Wenn sich die menschliche Kultur in keiner Weise im Tierreich vorfände, würde ein Versuch, eine übergreifende Theorie von der Natur zur Kultur hin zu formulieren, von vornherein aussichtslos sein. Aber neuere Forschungen belegen, dass wir vielfältige kulturelle Bausteine schon bei einer großen Anzahl von Tierspezies finden. Dies führt uns zu einem ersten Postulat: In der hier vorgestellten Theorie über Kulturbausteine, sind:

 

„SoftGene die Fortführung und die Ergänzung der Gene mit anderen Mitteln.“

 

Die Evolution bevorzugt über die Selektion eine möglichst gute Anpassung an die Umwelt. Aber, es gibt auch den umgekehrten Weg – Lebewesen gestalten sich ihre Umwelt nach den eigenen Bedürfnissen um.

Wonach sich die Anpassung an die Umwelt zunächst zu richten hat, geben die physikalischen Gesetze vor. Organismen haben seit Anbeginn ihrer Existenz die Gegebenheiten einer „realen“ Umwelt ergründet, fitnessrelevante Informationen über die Welt zusammengetragen und sie an die nachfolgende Generationen weitergegeben. Die physikalischen Gesetze der Umwelt werden von Lebewesen bereits dort reflektiert, wo ein Fisch stromlinienförmig gestaltet ist, um mit minimalsten Reibungsverlusten durch das Wasser zu schwimmen, oder wo die Knochen eines Vogels so leicht und gleichzeitig stabil gebaut sind, dass er sich in die Luft schwingen kann. Ganz verschiedene Tierstämme bzw. -klassen wie Fische, Säugetiere oder Vögel haben in ihrer Entwicklung zu Haien, Delphinen oder Pinguinen die Gesetze der Hydrodynamik „erforscht“ und diese Erkenntnisse in den Bau eines stromlinienförmigen Körpers einfließen lassen. Und genauso haben Pterodaktylus, Libelle, Albatros und Fledermaus lange vor Otto Lilienthal die Gesetze der Aerodynamik analysiert und in einen funktionsfähigen Flugkörper umgesetzt. Die Wahrnehmung von Licht ist nahezu unverzichtbar für die meisten höheren Lebewesen. Und so haben unterschiedlichste Spezies mindestens 50 verschiedene Augentypen hervorgebracht: von den in der Haut eingelagerten Lichtsinneszellen des Regenwurms zur Hell-Dunkel-Wahrnehmung bis hin zu den sprichwörtlichen Adleraugen. Letztere ermöglichen diesen Vögel, aufgrund ihrer fünf verschiedenen Farbsehzellen, ihres außerordentlich hohem Auflösevermögens und der – im Vergleich zum Menschen – deutlich schnelleren Bildwiederholungsrate, selbst aus mehreren Kilometern Höhe noch ihre kleinen Beutetiere zu erspähen.

Die Anpassung an die Umwelt bedeutet physikalische Zusammenhänge zu verstehen und Ingenieurskunst. Wie kompetent das in der Natur gespeicherte Wissen über die Physik ist, sehen wir daran, dass Ingenieure im Fachgebiet Bionik versuchen, die Lösungen für bestimmte technische Probleme in der Tier- und Pflanzenwelt zu finden. So werden z.B. die Verdickungen von Verästelungen bei Bäumen erforscht, um dieses Wissen in der Architektur einzusetzen.

Angepasstes Verhalten

Bei der Anpassung an die Umwelt ging es nie nur um den Körperbau, sondern auch um die Handlungssteuerung. Denn Organismen benötigen nicht nur einen an die Umwelt angepassten Körperbau, sondern auch ein an die Umwelt angepasstes Verhalten. Flügel nutzen wenig, wenn man beim Fliegen immer überall vorknallt. Und wie schwierig es ist, eine neuronale Steuerung für das zweibeinige Gehen zu erwerben, zeigen uns Kleinkinder bei ihren Versuchen, Laufen zu lernen. Vor einem ähnlich komplexen Problem stehen Ingenieure, wenn sie die Steuerung für Roboter programmieren, die sich auf zwei Beinen fortbewegen sollen.

Die Umwelt lenkt das Verhalten ihrer tierischen Bewohner in ähnlicher Weise, wie wir es auch bei uns Menschen beobachten können, wenn es z.B. um das Essen oder die Aufzucht des Nachwuchses geht. Eine Studie um den Ökonom Toman Barsbai, (2021), konnte in 14 von 15 untersuchten Lebensbereichen Übereinstimmungen entdeckten, so z.B. in der Größe der zusammenlebenden Gruppen, der Zahl der Geschlechtspartner und im sozialen Gefüge. „Lebten die Jäger und Sammler einer Region in sozialen Hierarchien, traf das auch vermehrt auf die Tiere zu. Bekamen die Menschen früh Kinder, tendierten die benachbarten Tiere ebenfalls dazu. Und zogen die Eltern den Nachwuchs gemeinsam groß, war es bei den Tieren häufig ähnlich.“ (Gelitz 2021 (2)).

Der neuronale Erkenntnisapparat von Tier und Mensch ist aus der Notwendigkeit heraus selektiert worden, überlebenswichtige Informationen über die Umwelt zu sammeln, zu interpretieren und in Handlungen umzusetzen.

Grundlage für Verhalten sind Informationen und Informationsverarbeitung. Die Evolution hat alle höheren Organismen mit Sinnesorganen und Reizleitungen ausgestattet. Die eingehenden relevanten Umweltreize werden dann von einem hocheffizienten neuronalen Netz ausgewertet und zusammen mit den genetischen Informationen in Verhalten umgesetzt. Artspezifische Verhaltensmuster treten bei allen höheren Lebewesen auf. Sie sind vielfach genetisch bedingt und haben sich über viele Generationen hinweg bewährt. Schon Insekten mit ihren kleinen neuronalen Netzen, wie z.B. Wespen, bringen Erstaunliches zuwege: Sie beherrschen, kaum aus der Wabe geschlüpft, perfekt die Kunst der Papierherstellung und die Anfertigung der arttypischen Wabennester. „Fallstirnschwalben, die in Südafrika leben, konstruieren aus nasser Erde Kugelnester mit einem kleinen, runden Einflugloch. Keine der dazu erforderlichen, teils nicht einfachen Verhaltensmuster erlernen die Vögel.“ (Heinrich & Bugnyar 2007, S. 27).

Zu diesem angeborenen Verhalten kommt das Erlernte: In längeren, nur sehr gelegentlich auftretenden Trockenzeiten müssen Elefantenhorden die letzten verbliebenen Wasserlöcher finden. Dann führen alte Elefantenkühe, die sich daran erinnern können, wo solche Wasserstellen zu finden sind, die Gruppe an. Dieses Kenntnisse werden so an die nächsten Generationen weitergegeben.

Selbst so ein einfaches Lebewesen, wie die kleine Schwarzbäuchige Fruchtfliege, ein Lieblingstier der Genetiker, ist in der Lage, aus ihren Erfahrungen zu lernen. Je komplexer die Herausforderungen der Umwelt für ein Lebewesen sind, desto weniger hilft starres ererbtes Verhalten. Zur überragenden evolutionären Antwort auf die sich stetig ändernden Umweltbedingungen wurde Intelligenz. Das gilt insbesondere für ein Individuum in einer Gemeinschaft. Denn dort, wo ein einzelnes Tier seine Artgenossen einschätzen und sich entsprechend daran angepasst verhalten muss, wird das soziale Umfeld die wichtigste Umweltkomponente für ein Lebewesen (Heinrich & Bugnyar 2007, S. 27). Und so meinen einige Verhaltensforscher, dass die Triebkraft für die Evolution der Intelligenz genau dort zu suchen sei: In der Anpassung des Individuen an eine soziale Gemeinschaft.

Globales Miteinander

Anpassung an die Umwelt ist die Einpassung in ein Geflecht von gegenseitigen Abhängigkeiten und Interaktionen. Auf der heutigen Erde sind alle Landlebewesen u.a. auf eine sauerstoffhaltige Atmosphäre angewiesen und auf ein kuscheliges Klima irgendwo zwischen -20 °C und +50 °C. Eine Maus könnte auf dem Mars nicht überleben. Ihr würde u.a. Sauerstoff fehlen, weil es keine Pflanzen gibt, die Sauerstoff produzieren. Sie hätte aus demselben Grund auch keine Nahrung. Höher entwickeltes Leben ist solitär nicht vorstellbar. Und so war auch auf der Erde die Besiedlung des Landes nur im Verbund von Bakterien, Pilzen und Pflanzen möglich und alle Lebensformen zusammen stabilisieren Temperatur und Atmosphäre der Erde. Das Leben hat sich auf der Erde seine ganz eigene Umwelt geschaffen, in gegenseitiger Abhängigkeit. „Gaia“, James Lovelocks Begriff für das globale Ökosystem, ist ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten (Lovelock 1991). Sauerstoff wird von Pflanzen produziert und Tiere veratmen diesen Sauerstoff wieder zu CO2. Verschiedene Arten von Organismen hängen über Nahrungsketten zusammen. Produzenten, wie die Bäume, bauen Holz auf und Destruenten, wie die Pilze, zersetzen das Holz wieder. Alles in der Biosphäre ist mit allem anderen untrennbar verwoben. Das gesamte globale Ökosystem, Gaia, ist ein gewaltiges Räderwerk. Umwelt und Organismus sind also schon aus diesem Grund schwer zu trennen, weil jeder Organismus für andere Organismen Umwelt darstellt. Aber die Zusammenhänge sind noch verwirrender und werden uns gleich zu einer eleganten Definition von Kultur hinführen.

Aus der einfachen physikalischen Tatsache heraus, das Actio gleich Reactio ist, folgt, dass jedes Lebewesen auf seine Umwelt einwirkt, und sie damit verändert. Ein berühmtes Beispiel für dieses grundlegende Gesetz führt zum sogenannten Schmetterlingseffekt in der Chaos-Theorie: Ein Schmetterling kann nur fliegen, wenn er sein eigenes Gewicht in der Luft mit seinen Flügeln herunter drückt. Diese, durch die Flügel verursachte Luftbewegung kann sich theoretisch immer weiter aufschaukeln, sodass daraus ein Orkan erwächst.

In der afrikanischen Savanne halten Elefanten durch Ihr Ernährungsverhalten den Baumbewuchs niedrig und schaffen so erst diese grasbestandene Landschaft als Lebensraum für Antilopen und Zebras. Als man im Yellowstone-Nationalpark in den USA 1995 Wölfe ansiedelte, weil sich die Wapiti-Hirsche dort zu sehr vermehrten, kamen überraschender Weise auch die Biber dazu: Die Hirsche mieden wegen der Wölfe unübersichtliche Niederungen, in denen sich nun Pappelbäume etablieren konnten, die vorher als Schösslinge von den Wapiti abgeäst wurden. Für diese Bäume interessierten sich nun die Biber.

Tierische Kultur

Wir sind nicht nur aus genetischer Sicht eng verwandt mit Vertretern aus dem Tierreich. Hunde und Ratten empfinden Mitgefühl, Gorillas haben eine Sprache und Schimpansen und Elefanten schließen Freundschaften (Christakis 2019, S. 319). Raubtiere lernen von ihren Eltern die benötigten Jagdtechniken und Zugvögel lernen von andreren Artgenossen die besten Routen in die Winterquartiere. Die Zahl Null zu begreifen, ist eine kognitive Höchstleistung. Immerhin wurde die Null als Zahl in Europa erst im 12. Jahrhundert von Leonardo Fibonacci eingeführt. Wissenschaftler waren daher überzeugt, dass es etwas typisch Menschliches sei, die Null als Zahl zu verstehen, eine Fähigkeit, die den Menschen deutlich vom Tier unterscheide. „Doch wie schon beim Gebrauch von Werkzeug, mit dem eben nicht nur Menschen, sondern auch Affen, Krähen und sogar Fische hantieren, stellt sich nach und nach heraus, dass die mathematischen Fähigkeiten von Tieren ebenfalls drastisch unterschätzt worden sind.“ (Baier 2018). – Jedenfalls scheinen Honigbienen das Konzept der Null als leere Menge zu verstehen, wie entsprechende Experimente belegen, Buntbarsche, Stechrochen und natürlich auch die schlauen Bienen können addieren und subtrahieren (scinexx.de). Das ist eigentlich nicht überraschend. Wie schon erwähnt, sind auf der grundlegendsten Ebene der Umwelt mathematische und physikalische Strukturen zu finden – und daher ist ein Neuronales Netz, das Mathematik beherrscht, einfach nur ein gut angepasstes Gehirn.

Eine mögliche Definition für Kultur lautet: „dass etwas an einem bestimmten Ort nach angebbaren Regeln getan wird und dass für dieselbe Sache an einem anderen Ort ganz andere Regeln gelten können.“ (Stichweh 2006). Das trifft zwar nicht für die menschliche Mathematik zu, die ist überall auf der Welt im Prinzip gleich und wahrscheinlich sogar im gesamten Kosmos, aber Kultur im Sinne dieser Definition finden wir auch im Tierreich: In den Vororten Sydneys gelingt es Gelbhaubenkakadus immer wieder, Mülltonnen zu öffnen, um dort nach Essensresten zu stöbern. Sie setzen sich an den Rand der Müllbehälter und klappen den Deckel auf. Die Verhaltensforscher konnten „tatsächlich zeigen, dass es sich um ein kulturelles Verhalten handelt. […] Die Kakadus lernen das Verhalten durch Beobachtung anderer Kakadus, und innerhalb jeder Gruppe haben sie ihre eigene spezielle Technik, so dass diese über einen großen geografischen Bereich hinweg unterschiedlich sind.“ (Schlott 2022).

Solche kulturellen Verhaltensweisen finden wir natürlich auch bei unseren nahen Verwandten. Schimpansenpopulationen, denen das gleiche Ausgangsmaterial wie Bäume oder Stöcke und ähnliche Nahrungsquellen zur Verfügung stehen, nutzen längst nicht alle – und je nach Population auch unterschiedliche Techniken, die ein Schimpanse beherrschen könnte. Die einen angeln Termiten mit Stöcken, Mitglieder einer anderen Population schlagen hartschalige Nester bestimmter Termiten auf Baumwurzeln entzwei, um an die leckeren Proteinquellen zu gelangen. Welche Techniken bevorzugt werden, bleibt über Generation stabil und wird von den Älteren an die Heranwachsenden weitergegeben.

Können wir also keine wirkliche Grenze zwischen uns und unseren nahen Verwandten ziehen, wird das, was Biologen über Schimpansen berichten, schlüssig: Weil Schimpansen eine ungewöhnlich große Verhaltensvielfalt haben und einige davon nur in bestimmten Gruppen anzutreffen sind und dort von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, sprechen Forscher von Schimpansenkulturen (Blawat 2019). Langzeitstudien belegen, „dass sozial erlerntes Verhalten innerhalb einer Gruppe von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird und auf diese Art kulturbildend sein kann.“ (Becker 2021, S. 42).

Eine neue Kultur Definition

Wenn wir Tieren Kultur zugestehen müssen, fallen notwendig alle Definitionen von Kultur weg, die rein auf den Menschen zugeschnitten sind. Gleichzeitig bieten sich nun neue Möglichkeiten einer Definition an. Wie schon erwähnt, muss ein Organismus nicht nur möglichst gut an seine Umwelt angepasst sein, sondern er kann auch den umgekehrten Weg wählen und die Umwelt an seine Bedürfnisse anpassen. Selbst schon „Bakterien sondern Chemikalien ab, um ihre Umwelt für sie freundlicher zu gestalten.“ (Christakis 2019, S. 289). Die im Familienverband lebende Brandts Mongolische Wühlmaus (Lasiopodomys brandtii) hält gezielt Ausschau nach Beutegreifern. Dabei verschaffen sich die Nager freie Sicht, indem sie ausschließlich für den Zweck der Luftraumüberwachung hohes Gras im Umfeld drastisch niederlegen (Lingenhöhl 2022). Wir kennen, bezogen auf „cultura“, Ameisen, die in ihren Bauten Pilze anbauen oder die Läuse melken, wobei sie diese vor Raubinsekten schützen, die also gewissermaßen Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Eichhörnchen betreiben Vorratswirtschaft. Und selbst die Dienstleistungsgesellschaft, die in den Wirtschaftswissenschaften als hochentwickelt gilt, hat im Tierreich Parallelen: Putzerfische entfernen an bestimmten Putzstellen, zu denen Manta-Rochen hinkommen, die Hautparasiten, eine Dienstleistung, die irgendwo zwischen Körperpflege und Hautarzt angesiedelt ist. Der Gebrauch von Werkzeugen hilft auch nicht weiter, kulturelle Leistungen eindeutig dem Menschen zuzuordnen. Krähen, Krokodile und Wespen verwenden solche. Schon gar nicht können wir Architektur zur Abgrenzung anführen. Nestbau ist ein weit verbreitetes Phänomen bei Tieren. Wespen bauen aus Papier, das sie aus zerkautem Holz herstellen, filigrane Waben. Biber bauen Burgen mit raffinierten Zugängen, die sie vor Raubtieren schützen. Ein Termitenhügel verfügt über ein ausgeklügeltes System der Belüftung und der Temperaturregulierung, das die Bewohner vor Austrocknung und vor zu großer Hitze schützt. Menschen konstruieren Häuser mit Heizungen, die ihnen eine eigene kleine behagliche Umwelt selbst im tiefsten Winter schaffen. Dies sind Anpassungen der Umwelt an die Organismen im Gegensatz zur Anpassung von Organismen an die Umwelt. Aus all diesem können wir nun eine neue Definition für Kultur ableiten. Wir können „Kultur“ definieren als:

 

die Veränderungen der Umwelt zum eigenen Nutzen, die ein Organismus durch sein Einwirken erzielt.

 

Vielleicht umfasst diese Definition nicht jede Art von Kultur, oder auch Dinge, die wir nicht zur Kultur zählen. Scheinbar würde z.B. Sprache aus so einer Definition für Kultur herausfallen. Aber schauen wir uns das sprichwörtlich „dumme Huhn“ genauer an, so entdecken wir verblüfft, dass auch die verbale Kommunikation zunächst einmal keine Erfindung der menschlichen Kultur ist. Der Sinn der Laute bei Hühnervögeln ist, mit ihren Lauten ihre Umwelt, genauer, ihre Mithühner, zu manipulieren. Wie erwähnt, sind in einem sozialen Verbund für ein Individuum Artgenossen ein wichtiger Bestandteil der Umwelt. Bei Hühnern fanden die Forscher „24 Laute, die anscheinend bestimmte Ereignisse bezeichnen.“ (Zielinski & Smith 2015). Hühner übermitteln durch ihre Laute und Bewegungen Informationen, die von ihren Artgenossen verstanden werden. Droht eine Gefahr durch z.B. einen Habicht, suchen die Hühner Schutz und stoßen sehr leise ein hohes „Iiii“ aus. „Die Signale beziehen sich auf spezifische Objekte und Ereignisse, ähnlich wie menschliche Worte. Anscheinend entsteht durch den Ruf beim Empfänger ein mentales Bild des jeweiligen Objekts und löst die entsprechende Reaktion aus.“ (ebenda). Stoßen Hähne auf Futter, reagieren sie mit einer Serie von aufgeregten „Dock-dock-Lauten – vor allem dann, wenn sie auf ein Weibchen in der Nähe Eindruck machen wollen.“ (ebenda). Auch für Menschen dient Sprache fast immer dazu, die soziale Umwelt im eigenen Sinne zu verändern.

Vielleicht fallen einige Jagdtraditionen oder andere Verhaltensweisen von Tieren aus dieser Definition noch etwas heraus, etwa wenn sich Orcas auf den Strand werfen, um Seelöwen zu erbeuten. So eine kulturelle Jagdtradition erweitert offenbar die ökologische Nische für diese Tiere, ohne dass sie direkt ihre Umwelt verändern. Die Orcas verändert hier ihre Umwelt lediglich durch eine Erweiterung ihres Meereshabitats bis auf den Strand. In diese Richtung muss die Definition sicherlich noch nachgeschärft werde. Aber ansonsten wäre so eine Definition von großer Einfachheit und Klarheit: Auf der einen Seite finden wir die Anpassung des Organismus an seine Umwelt (Natur), auf der anderen Seite die Anpassung der Umwelt an den Organismus (Kultur).

Kultur als Umwelt

Es gibt eine langandauernde Debatte darüber, was den Menschen eigentlich prägt und ausmacht. Sind es seine Gene, oder eher seine Kultur (nature vs. nurture)? Die Antwort ist ein klares: Beides! Natur und Kultur zusammen. Biologie und Kultur sind unentwirrbar miteinander verknüpft. Das menschliche Verhalten ist ohne sein evolutionäres Erbe, das ja seine Augen, Ohren und Gliedmaßen und nicht zuletzt sein Gehirn mit einschließt, nicht zu verstehen. Unser Verhalten ist verknüpft mit unseren Genen, der Neurochemie, den Hormonen, unseren Sinnesreizen, der pränatalen Umgebung, den frühkindlichen Erfahrungen, dem allgemeinen Umweltdruck, unserer Erziehung und einer jeglichen Form der darüber hinausgehenden Lebenserfahrung.

Unsere Umwelt besteht zu einem großen Teil aus anderen Menschen, mit denen wir interagieren. Dass Artgenossen für ein Individuum einen bedeutenden Teil der Umwelt darstellen, ist auch im Tierreich weit verbreitet. Schon jede Form der sexuellen Fortpflanzung ist eine Interaktion mit der Umwelt, weil der Geschlechtspartner nicht zum Individuum selbst gehört. Für einen Säugling ist die Mutter der entscheidende Teil seiner Umwelt. Für ein Löwenmännchen ist jeder Rivale um ein Jagdrevier und um die Weibchen eine stete stressinduzierende Umweltbedrohung. Die Umweltrelevanz von Artgenossen wird bedeutender in sozialen Lebensgemeinschaften, wie bei Ameisen oder Honigbienen, bei Wölfen oder Elefanten und den meisten Primaten. Wir Menschen haben unseren Lebensraum so weitgehend umgestaltet, dass diese umgestaltete Umwelt, also unsere Kultur, den Großteil unserer heutigen ökologischen Nische darstellt – Städte und die Internationale Raumstation (ISS) sind zwei Beispiele dafür. Wie sehr wir uns dabei selbst auch in Koevolution dieser Umwelt angepasst haben, zeigt die folgende plausible Vermutung, die der Archäologe Johannes Krause äußert: „Ein zweiwöchiger Aufenthalt in der Wildnis ohne zivilisatorische Hilfsmittel dürfte heute für die meisten Europäer tödlich enden.“ (Krause 2021, S. 75).

Der Klimawandel führt es uns vor Augen: Wir müssen mit bzw. in unserer Umwelt leben, wir müssen uns ihr anpassen. Aber wir können die Umwelt auch zu unseren Gunsten umgestalten, und das ist eine Fähigkeit, die sich auch weit verbreitet im Tierreich finden läst. Wege aus den drohenden Katastrophen, die der Klimawandel hervorrufen wird, sind deshalb nicht nur Wege des Verzichts, sondern auch innovative technische Lösungen wie das Geoengineering. Der Mensch kann Bedrohungen kollektiv begegnen und neue, nicht vorhersagbare Lösungen finden. Wir müssen dem Klimawandel nicht mit der bestehenden Technik begegnen, wir können und werden neue Techniken dafür erschaffen – für die meisten Probleme haben wir sie bereits: Elektromobilität ist ein Beispiel dafür.

Hinführung zu einer Theorie über Kulturbausteine

Nachdem wir Kultur also als einen integralen Bestandteil der „Natur“ identifiziert haben, können wir einen Schritt weiter zurücktreten zu dem, was fundamental für die Biologie ist, zu den Genen. Diese werden wir dann in einem weiteren Schritt mit den Kulturbausteinen, also unseren „SoftGenen“, zusammenbringen. Fangen wir ganz vorne an:

Gregor Johann Mendel (1822-1884) unternahm zahlreiche Kreuzungsexperimente durch künstliche Bestäubung an Erbsen und wurde damit zu einem der Gründerväter der Genetik. Der Name „Gen“ leitet sich vom griechischen „genesis“ – Entstehung ab. Er wurde 1909 vom dänischen Biologen Wilhelm Johannsen eingeführt. Wie Mendel kam auch er zu dem Schluss, dass alle vererbbaren Merkmale von gewissen „Elementen“ im Innern der Zelle bestimmt werden (simplyscience.ch). Die von James D. Watson und Francis Crick 1953 entschlüsselte Struktur der Desoxyribonukleinsäure (dt. DNS, engl. DNA, weil Säure = engl. Acid) führte schließlich zu einer Revolution in der Biologie. Endlich hatte die Welt eine Idee davon, wie die Informationen codiert werden, die die Eltern auf ihre Kinder übertragen. Aus Desoxyribonukleinsäure-Bausteinen aufgebaute Gene beinhalten die Informationen über die Baupläne von Organismen oder steuert deren Verhalten und sie können noch einiges mehr. Gene sind chemische Muster, organisiert in einer Art verdrehten Strickleiter, der sogenannte Doppelhelix. Sie reisen auf komplizierten Wegen von den Eltern zu den Kindern und immer weiter entlang der Generationen.

Die DNS speicherte bei ihrer Reise die Erinnerungen an das Leben der Vorfahren. Dies geschah durch unzählige Veränderungen des genetischen Codes durch Mutationen und Rekombinationen. Unter dem Eindruck von guten oder schlechten Erfahrungen setzten sich in diversen Auslesevorgängen vorteilhafte Gene durch. Wer als Eltern gut mit der Umwelt zurechtkommt, sich anpassen kann, hat bessere Chancen, Nachkommen zu haben. Auf diese Weise selektiert die Evolution Verhaltensregeln, die auch schon von den früheren Generationen immer wieder getestet worden waren.

Dawkins schließlich wies darauf hin, dass genau hier, bei den Genen, die Selektion ansetze, die für die Entstehung des Organismenreiches maßgeblich sei: Für das Überleben und die Fortpflanzung günstige Gene können sich stärker verbreiten, als Gene, die die „Fitness“ eines Lebewesen vermindern. Was von unserem gesamten Körper überdauert, wenn es uns gelingt, uns fortzupflanzen, sind zunächst einmal die Gene: Gene sind potentiell unsterblich.

Die Auswirkungen der Gene auf das Verhalten von Organismen seien derart groß und vielfältig,, behauptet der Psychologe Erik Türkheimer in seinem „ersten Gesetz der Verhaltensgenetik“, dass alle menschlichen Verhaltensmerkmale erblich seien (Christakis 2019, S. 213).

Die Macht der Gene

Die Macht der Gene ist nie von ihrem Kontext zu trennen. Die greif- und sichtbaren Formen und Eigenschaften eines Individuums sowie auch seine Handlungsoptionen sind durch die Gene vorbestimmt, aber nie ganz durch sie determiniert. „Gene, die Menschen wie Marionetten kontrollieren, werden weit häufiger von Kritikern der Soziobiologie als von Soziobiologen selbst heraufbeschworen.“ (Hrdy 2000, S. 82).

Verhalten nur durch die Gene zu steuern, ohne die Möglichkeit der Korrektur, ist ein Problem. Denn eine zu starre Steuerung des Verhaltens ist keine wirklich gute Lösung. Fast alle Lebewesen können dazulernen und dadurch ihr Verhalten an die Umstände anpassen. Der damit verbundenen Verlust der vollständigen Kontrolle über das Verhalten des Individuums ist für die Gene so vorteilhaft, dass schon Fliegen und Würmer das Lernen beherrschen, es ist etwas Uraltes.

Gene müssen ein Individuum dazu bringen, sich fortzupflanzen, (fast) nie darf ein Lebewesen dieses Ziel aus dem Auge verlieren, sonst stirbt das Gen und seine Botschaft aus. Dieses Ziel im Sinne der Evolution vorzugeben und den Weg dahin frei wählbar zu lassen, mag die Zauberformel für einen im Sinne der Evolution erfolgreichen Organismus sein. Es gäbe keine menschlichen Gene auf dieser Welt, wenn Gene es nicht fertig bringen würden, Menschen zu motivieren, sich fortzupflanzen. Der Trick, den die Evolution dafür ersonnen hat, ist: Sex. Die mögliche Folge des Sex, Kinder zu zeugen, wird mindestens in Kauf genommen, oft aber sogar gewünscht. Im christlichen Abendland sollte die Zeugung sogar der ausschließliche Zweck sexueller Praktiken sein. Wie auch immer, die Lust auf Sex und die positiven Gefühle, die bei der Brutpflege der eigenen Kinder durch unsere genetische Veranlagung vermittelt werden, reichten offenbar, die menschliche Population zu erhalten und zu vergrößern.

Das Streben, Kinder zu bekommen und für sie zu sorgen, ist beileibe keine Selbstverständlichkeit und ist zunächst auch nur ein Kollateralschaden von Sex. Denn Kinder in die Welt zu setzten, verlangt Menschen einiges ab: Betrachten wir nur die Gefahr, der sich die Frauen aussetzen, wenn sie gebären. Der Geburtsvorgang ist von starken Schmerzen begleitet. Es kann zu vielfältigen Komplikationen kommen, die für die Mutter tödlich verlaufen können. So starben im London der Jahre 1583-1599 ca. 2,4 Prozent der Frauen bei der Entbindung, und auch heute noch sterben bis zu 0,5 Prozent der Frauen in Subsahara-Afrika beim Gebären oder im Kindbett (wikipedia 02). Aber trotz aller Gefahren und Mühen, die daraus folgen können, streben Menschen nach Sex. Und genau das ist im Sinne der Gene.

Anwachsende Komplexität

Die DNS war für ca. drei Milliarden Jahre der wichtigste Informationsträger in der Biologie, bis zur bahnbrechenden „Erfindung“ der Neuronen. Diese Erfindung markiert den Übergang von einer fast reinen Hardware hin zu einem biologischen Hardware/Software-System: Verhalten konnte ab da flexibler, über Lernvorgänge gesteuert, an neue Herausforderungen angepasst werden.

Der Erfolg eines Organismus im Überlebenskampf und bei der Vermehrung hängt von der Informationsaufnahme, von der Verarbeitung und der Umsetzung in ein Verhalten ab. Seit die ersten Neuronen in prähistorischen Lebewesen auftauchten und die Informationsverarbeitung in Organismen übernahmen, trieb die Selektion das Nervensystem in Richtung einer immer größeren Komplexität. Die Neuronen eines Menschen und einer Fliege sind bemerkenswert baugleich, der Unterschied liegt eher in der Quantität – Menschen haben, (auch wenn man das manchmal bezweifeln möchte), das deutlich größere Gehirn. Die einzige qualitative Ausnahme sind die Spindelneuronen, die wir nicht bei Fliegen, wohl aber auch schon im Gehirn von Walen und Elefanten und bei anderen Primaten finden, also bei Tierarten mit einem komplexen Sozialverhalten (Saplosky 2017, S. 65).

Neuronen können Steuerungsnetzwerke von fast beliebiger Größe und Komplexität aufbauen. Ab einer Stufe genügender Komplexität entwickelt sich eine neue Qualität: Verhalten wird nicht mehr starr durch das Genom vorgegeben, sondern kann durch Erfahrungen verändert werden. Das dafür nötige Gehirn entwickelte sich bereits bei den Dinosauriern zu einem immer größeren Volumen, die größten Dinosauriergehirne finden wir am Ende ihrer Herrschaftszeit. Offensichtlich folgte die Evolution damals wie heute dem Trend zur immer komplexeren Datenverarbeitung (Losos 2018, S. 23). Gene stellen bei komplexeren Organismen also neben dem angeborenen Verhalten auch die Fähigkeit zum Lernen und Sich-Erinnern-Können bereit.

Genau hier beginnt das Feld der „Meme“: Erfahrungen nicht nur selbst zu nutzen, sondern über Signale mit Artgenossen auszutauschen wird zu einem Meilenstein der Evolution. Vor allem diese Fähigkeit ermöglicht kulturelle Entwicklungen. Auf frühere Erfahrungen des Lebens zurückgreifen zu können, bleibt nicht auf die Gene beschränkt, sondern kann durch Artgenossen vermittelt werden. Insbesondere die menschliche Sprache wird zu einem Booster der kulturellen Entwicklung. Noch effektiver wird der Austausch von Informationen schließlich mit der Schrift: „Schreiben zu können, also die Fähigkeit, das flüchtige gesprochene Wort einzufangen und auf der einen oder anderen Oberfläche zu verewigen, von der es wieder abgerufen und in einem endlosen Echo wiederholt werden kann, umweht etwas Überirdisches.“ (Dorren 2021, S. 275). Diese emergente Erscheinung, sich kollektiv erinnern zu können, wird so bedeutend, dass sich Schrift und Buchdruck und schließlich digitale Datenträger weltweit als Grundlage fast jeder menschlichen Kultur etablieren.

Epigenetik und phänotypische Plastizität

Hier noch zwei weitere Bemerkungen über Gene und ihren Übergang zu den „SoftGenen“. Der Begriff „Epigenetik“ (griechisch: „zusätzlich zur Genetik“) wird 1942 von C. H. Waddington eingeführt und meint die Veränderungen des Genoms, die durch Umwelteinflüsse ausgelöst werden, allerdings ohne, dass sich dabei die Grundstruktur des Genoms ändert. Mit der Entdeckung der epigenetischen Einflüsse auf die Steuerung von Genen tritt mehr und mehr die relativ naive Ansicht über die Gene und ihre Wirkung auf unser Leben zu Tage.

Gene dienen der Bildung aller zellulären und extrazellulären Proteine und RNS-Moleküle in einer Zelle. Etwa 20.000 Gene kennen wir heute, die Proteine codieren, das sind 1,2 Prozent des Erbgutes. Glaubt man noch in den 90er Jahren des vorherigen Jahrhunderts, dass nur diese wenigen DNS-Abschnitte wirkliche Informationen trügen und der Rest „Junk-DNS“ sei, so beginnt sich diese Sicht mit dem Projekt ENCODE (ab 2003) deutlich zu ändern. Das ENCODE-Projekt wird gegründet, um die Funktion des menschlichen Erbguts zu untersuchen. Mittlerweile ist klar, dass ein großer Teil des Genoms aus Millionen von Schaltern besteht, welche zusammen ein hochkomplexes Steuerungssystem ergeben. Gene unterliegen einer komplexen Regulation, die durch vermutlich 20 Prozent des Genoms kontrolliert wird (Bahnsen 2012). Die verschiedenen, einem Gen vorgeschalteten Regulationsabschnitte auf der DNS sind in der Lage, das Ablesen eines Gens kurzfristig entweder zu initiieren, zu fördern, zu vermindern oder ganz zu verhindern. Dabei kann ein Gen langfristig inaktiviert und bei Bedarf reaktiviert werden. Methylgruppen als chemische Schutzkappen beeinflussen an der Erbsubstanz, wie häufig bestimmte Gene abgelesen und in Proteine umgesetzt werden.

Dass ein identisches Genom sehr unterschiedlich arbeiten kann, überrascht nicht: Der Mensch trägt möglicherweise 1.000 verschiedene Zelltypen in sich. Trotz der fundamentalen Unterschiede zwischen den einzelnen Zelltypen besitzen sie alle dasselbe Genom. Die Genforscher gehen heute davon aus, dass sich die Genregulation von Zelle zu Zelle erheblich unterscheiden kann. Die Zellen der Haarwurzel aktivieren Gene, die für die Haarfarbe zuständig sind, Leberzellen produzieren Alkohol-Dehydrogenase zum Abbau von Alkohol.

Und hier der Clou: Änderungen im Methylierungsmuster müssen nicht in der DNS selbst begründet sein! Vielmehr können die Zellen damit auf Umwelteinflüsse reagieren, ohne dass eine dauerhafte Mutation nötig ist. Stresst man neugeborene Mäuse, indem man sie gleich nach der Geburt von der Mutter trennt, ändert sich die Aktivität einzelner Gene unwiderruflich. Die Folge ist eine geringere Stressresistenz dieser Tiere, sie entwickeln Defizite in der Gedächtnisleistung, Emotion und Antrieb sind gestört (Meyer 2009). Noch erstaunlicher sind Versuche mit Mäusen, die belegen, dass Angst vor bestimmten Situationen über mehrere Generationen hinweg „vererbt“ werden kann. Forscher haben Mäusen zusammen mit dem Duft von Kirschblüten leichte Elektroschocks verabreicht. Noch die Enkel dieser Mäuse reagieren auf den Duft von Kirschblüten ängstlich, selbst wenn sie durch künstliche Befruchtung gezeugt werden (Elmer 2013). Andere Forscher weisen nach, dass liebevolle Rattenmütter ihre fürsorgliche Art ebenfalls über die Epigenetik auf ihre Töchter „vererben“ (Sapolsky 2017, S. 291). Bis 2019 sind mehr als 150 Studien publiziert worden, „die das Konzept einer generationenübergreifenden Weitergabe epigenetischer Informationen stützen.“ (Tautz 2021, S. 19). Wir müssen vermuten, dass Ähnliches auch für uns Menschen gilt: Traumata, verursacht durch Kriege oder dauerhaften Stress, hervorgerufen durch z.B. Armut, können sich auf diese Weise in nachfolgenden Generationen bemerkbar machen.

Das Erbgut des Menschen ist weit weniger starr und unveränderlich als gedacht. Sogar eineiige Zwillinge haben kein identisches Genom, weil Gene durch Umwelteinflüsse unterschiedlich stark aktiviert oder auch gänzlich abgeschaltet sein können. Es gibt also nicht nur eine zufällige Genveränderung durch Mutation, sondern auch eine umweltabhängige, die eine Veränderung der Gensteuerung bewirkt. Die Epigenetik kennzeichnet damit den Übergang von der starren genetischen Vererbung hin zu einem Genom, dass unmittelbar von der Umwelt beeinflusst werden kann. Diese Modifizierungen rehabilitieren in gewissem Umfang die Theorien von Lamarck: Epigenetische Informationen, erworben von den Eltern, können an nachfolgende Generationen vererbt werden. Damit wird immer klarer, wie eng Gene und Umwelt zusammengehören.

Die zweite Bemerkung unterstreicht diese Rehabilitation von Lamarck noch ein wenig mehr: Bei Rotwangen-Schmuckschildkröten schlüpfen männliche oder weibliche Schildkrötenbabys in Abhängigkeit davon, ob das Gelege eher in einem schattigen Bereich oder in einem sonnigen Abschnitt eines Strandes angelegt wurde. Diese phänotypische Plastizität, dass je nach Umwelteinfluss verschiedene Phänotypen auf derselben genetischen Basis entstehen können, ist möglicher Weise „allgegenwärtig“. „Forschungsarbeiten der zurückliegenden zehn Jahre haben gezeigt, dass die Umgebungsbedingungen häufig beeinflussen, wie aktiv einzelne Gene sind – wie sehr also der Organismus bestimmte genetische Bauanleitungen in Proteine umsetzt.“ (Pfennig 2022, S. 37). Phänotypische Plastizität erlaubt es Organismen, bereits innerhalb der eigenen Lebenszeit auf veränderte Umwelteinflüsse zu reagieren.  

Der Übergang vom Gen zum Mem

Gene und Umwelt arbeiten ebenfalls eng zusammen, wenn wir das Zusammenwirken und die gegenseitige Beeinflussung von Genen und Kultur betrachten. Der Soziobiologe Edward O. Wilson versteht– in etwas anderer Weise, als die Genetiker es tun – genau das unter Epigenetik: Bei ausreichender Ernährung und Pflege eines gesunden Säuglings und Kleinkinds lässt es sich nicht verhindern, dass ein Kind Laufen und Sprechen lernt, dass es sich immer kompetenter in eine Gemeinschaft einfügt, „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden lernt, in die Pubertät kommt und zu diesem Zeitpunkt das Interesse für ein anderes oder auch für das eigene Geschlecht entwickelt. Epigenetische Regeln steuern, welche Nahrung wir zu uns nehmen und dass wir schnell Ängste und Phobien gegen Schlangen und Spinnentiere entwickeln. Epigenetische Regeln legen fest, dass wir sexuellen Kontakt zu nahen Verwandten meiden, als Babys unsere Mütter anlächeln und uns vor Fremden fürchten, wenn wir allein sind.

Viele dieser Regeln sind uralt, wie die des Spracherwerbs. Dass wir sprechen lernen, ist in uns angelegt, welche Sprache wir erwerben, hängt von unserer Umwelt ab, die in den ersten Lebensmonaten meist von der Mutter dominiert ist. Und es ist noch verwickelter, denn die Umwelt gibt vor, was und worüber wir sprechen –Engländer z.B. gern über das Wetter.

Entwicklungspsychologen kennen eine große Anzahl von Entwicklungsstadien des Verhaltens, die ein Menschenkind durchläuft, und weil es fast alle Kinder in ähnlicher Art tun, ist es als „artgerecht“ für den H. sapiens zu bezeichnen. Und daraus folgt eine „artgerechte“ menschliche Kultur. „Die Natur des Menschen besteht in den ererbten Regelmäßigkeiten der mentalen Entwicklung, die für unsere Art typisch ist.“ (Wilson 2013, S. 233). Ein ähnliches Konzept vertreten die Anthropologen Lionel Tiger und Joseph Shepher. Ihrer Meinung nach besitzen wir Menschen eine grundlegende Form des Soziallebens, das in den Genen eingeschrieben und von der Evolution vorgeprägt ist. Sie nennen es das menschliche Biogramm (Christakis 2019, S. 105).

Körperliche Konvergenz

Ähnliche Herausforderungen führen zu ähnlichen Lösungen. Das ist ein weit verbreitetes Prinzip in der Biologie. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Anpassungen an bestimmte Umweltbedingungen. Will man sich in einer lichtdurchfluteten Umgebung orientieren, sollte man einen Sensor für Licht entwickeln. Und so ist, wie schon erwähnt, das Auge quer durchs Tierreich mehr als 50 Mal entstanden. Selbst das besonders leistungsfähige Linsenauge haben gleich mehrere Tiergruppen hervorgebracht, darunter Tintenfische, Wirbeltiere, einige Quallen und sogar Ringelwürmer.

Als Darwin auf den Galapagosinseln seine heute nach ihm benannten unterschiedlichen Arten der Darwinfinken untersucht, glaubt er zunächst, sie stünden für vier der ihm von zuhause bekannten Vogelarten: Finken, Kernbeißer, Amseln und Zaunkönige (Losos 2018, S. 28). In Wirklichkeit gehören die Vögel alle zu den Nachkommen einiger weniger Finken, die es vom Festland auf die Inseln geschafft haben. Dort haben sie sich zu insgesamt 18 sehr eng verwandten Finkenarten aufgespalten.

Was Darwin getäuscht hat, nennen die Biologen „konvergente Entwicklungen“: Organismen kommen unter ähnlichen Umweltbedingungen zu ähnlichen evolutionär herausgebildeten Lösungen. Viele australische Vögel gleichen den auf der Nordhalbkugel angesiedelten Vogelarten wie Grasmücke, Sperling, Schnäpper, Rotkelchen, Kleiber usw., ohne mit diesen Arten verwandt zu sein. Das afrikanische Stachelschwein hat mit dem Baumstachler einen ganz ähnlichen scheinbaren Verwandten in Nordamerika und dasselbe gilt für den Greifstachler in Südamerika. Die Entwicklung dieser Tierarten führt von unterschiedlichen Vorfahren zu ähnlichen Überlebensstrategien, ausgedrückt durch ihre Stachelbewehrung. Quallen, Skorpione, Insekten, Schnecken und einige Fischarten jagen oder wehren sich mit der gleichen Waffe, dem Giftstachel. Beutelmull und Maulwurf benutzen dieselbe Schaufeltechnik, der Kolibrischwärmer, ein Schmetterling, und der Vogel Kolibri beherrschen dieselbe Flugtechnik, inklusive Stillstehen in der Luft und Rückwärtsfliegen. Beide Arten können dabei Nektar aus Blüten saugen – einmal mit Hilfe der Flügel aus Chinin, einmal mittels Federn.

Erst das Verschwinden der Dinosaurier ermöglicht es den Säugetieren einschließlich des Menschen, die meisten ökologischen Nischen auf der Erde einzunehmen. Was aber wäre gewesen, wenn die Dinosaurier nicht vor 65 Mio. Jahren durch einen Asteroideneinschlag weitgehend hinweggefegt worden wären? Der kanadische Paläontologe Dale Russel stellt sich dafür den Troodon, einen aus der geologischen Zeit der späten Oberkreide stammenden und vermutlich am weitesten entwickelten Dinosaurier als möglichen Urvater eines intelligent werdenden Zweiges dieser Tiere vor. Man vermutet bei dem Troodon eine ähnliche Intelligenz wie bei den heutigen Vögeln. Würde das Gehirn des Troodon im Zuge der fiktiven Entwicklung zur Intelligenz größer, würde dies eine größere Gehirnschale erfordern. Schwerere Köpfe sind besser auszubalancieren, wenn sie über dem Körperschwerpunkt angebracht und halbwegs kugelförmig sind. Das würde beim Troodon dazu führen, dass sich der Körper weiter aufrichten würde. Dann wäre der Schwanz überflüssig und würde der Evolution zum Opfer fallen. Dass, was Russel sich schließlich vorstellt, einen „Dinosaurid“, sähe verblüffend menschlich aus, eben weil der Evolution nicht beliebig viele Wege offen stehen.

Koevolution von Körper und Kultur

Der Begriff der „Koevolution“ im Tierreich lässt sich gut an Insekten und Blütenpflanzen darstellen: Bienen sind nicht irgendwie entstanden und haben dann mal geguckt, wo sie Nektar finden. Und Pflanzen haben nicht prachtvolle Blüten entwickelt, um dann zu hoffen, dass irgendwann mal eine Biene vorbeischaut. Vielmehr muss diese Entwicklung über Jahrmillionen hinweg in kleinen Schritten unter gegenseitiger Beeinflussung von Pflanzen und Insekten verlaufen sein, wobei die Entwicklungen der einen Seite notwendige Evolutionsschritte für die andere Seite darstellen.

In eben dieser Art haben sich die Natur und die Kultur des Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit entwickelt: „Zur genetischen Evolution [….] hat die natürliche Auslese das Parallelgleis der kulturellen Evolution hinzugefügt.“ (Wilson 2000, S. 175). Die gegenseitige Beeinflussung zwischen Genen und kulturellen Verhaltensweisen wird auch „doppelte Vererbungslehre“ genannt, oder als „biokulturelle Evolution“ bezeichnet (Christakis 2019, S. 407). Auch die Kultur des Menschen und seine genetischen Anpassungen daran beeinflussen sich gegenseitig, der Mensch wäre nicht Mensch geworden ohne seine kulturellen Errungenschaften.

Es war eine Umwelt, die sich wahrscheinlich aufgrund von Klimaänderungen vom Wald zur baumbestandenen Graslandschaft ändert, die die Menschwerdung einleitet. Als der Mensch sich im Zuge dieser Klimaänderung zum Menschen aufrichtet, verändern sich seine körperlichen Merkmale. Die Großzehen unserer Vorfahren verdicken und verkürzen, die Beine strecken sich. Becken, Hüftgelenke und Wirbelsäule passen sich dem aufrechten Gang an. (Walter 2008, S. 41).

Die Zweibeinigkeit stellt eine überaus nützliche Anpassung, insbesondere in Graslandschaften dar. Umherstreifen ist für die Jagd wesentlich, „heute noch existierende Jäger- und Sammlervölker, etwa die Buschmänner der Kalahari, […] legen auf der Nahrungssuche täglich zehn bis dreizehn Kilometer zurück.“ (Walter 2008, S. 45). In der Folge dieser neuen Lebensweise verliert die Gattung Homo außerdem durch einige Mutationen ihre Körperbehaarung und entwickelt statt dessen Schweißdrüsen. Mit diesem neuartigen Kühlsystem können unsere Vorfahren ausdauernder laufen, besser jagen und flüchten.

Schimpansen verbrauchen im Vergleich zu uns Menschen ein Drittel mehr Energie zur Fortbewegung. Neben dem Vorteil des geringeren Energiebedarfs für das Umherschweifen ermöglicht der aufrechte Gang einen weiten Blick in die offene Savannenlandschaft. Unsere Altvordern können jetzt scharfkantige Steine zum Zerlegen von Kadavern mit sich zu führen und haben die Hände frei für Wurfsteine oder Speere, mit denen sie Wild erlegen können. Sie lernen, Gegenstände kraftvoller und gezielter zu werfen, eine Voraussetzung dafür, eine erfolgreiche Jägerkarriere zu starten.

Gezieltes Werfen ist ein hochkomplexer Vorgang, der neben anatomischen Anpassungen auch einen hohen Rechenaufwand des Gehirns benötigt. Schimpansen sind prinzipiell in der Lage, annähernd präzise zu werfen, erreichen dabei aber nur eine Wurfgeschwindigkeit von ca. 30 km/h. Geübte menschliche Werfer erreichen eine Abwurfgeschwindigkeit von bis zu 175 km/h (Dönges 2013).

Die auffälligste Veränderung auf dem Weg zum H. sapiens ist das Anwachsen des Gehirnvolumens. Das Gehirn ist unser größter Energiefresser. Es macht nur zwei Prozent des Körpergewichtes aus, verbraucht aber an die zwanzig Prozent der Energie und Nährstoffe im menschlichen Körper. Mit dem Anwachsen des Hirnvolumens muss auch eine Umstellung auf energiereichere Nahrung erfolgt sein. Beides bedingt sich wechselseitig und gelingt mit Hilfe von Steinwerkzeugen und Jagdwaffen.

Die ältesten bekannten Steinwerkzeuge stammen aus der Zeit des H. rudolfensis von vor 2,6 bis 1,6 Mio. Jahren und werden der Oldowan-Kultur zugeordnet. H. rudolfensis gilt damit auch als der älteste Vertreter der Gattung „Homo“. Er hat gelernt, Hammersteine herzustellen – zunächst wohl, um hartschalige Früchte zu öffnen, Nüsse zu knacken, oder Wurzeln und Knollen aufzubrechen, die er mit anderen Werkzeugen ausgräbt. Außer Hammersteinen finden die Archäologen aus dieser Zeit aber auch schon gezielt hergestellte scharfkantige Abschläge von größeren Steinen. Und diese eröffnen völlig neue Ressourcen. Ein Schimpanse verschmäht durchaus kein Fleisch, aber es sind nur kleinere Wirbeltiere und Insekten, die bei den Schimpansen vielleicht fünf bis zehn Prozent der Nahrung ausmachen (Ewe 2009). Er müsste vor einem Elefantenkadaver verhungern, weil er kaum in der Lage wäre, sich aus diesem Fleischberg einen Happen herauszubeißen. Als die ersten Hominiden Steinwerkzeuge entwickeln, wird mit Hilfe scharfer Steinabschläge genau das möglich: Kadaver von Großtieren werden zur zusätzlichen Nahrungsquelle. Die Umstellung von energiearmer pflanzlicher Nahrung auf höhere Anteile energiereicher tierischer Proteine erlaubt einen kürzeren Verdauungstrakt. Energiereichere Nahrung plus weniger aufwändige Verdauungsarbeit eröffnen die Option auf ein größeres Gehirn.

Die Erfindung von Jagdwaffen kennzeichnet den Übergang vom Gejagten zum überaus erfolgreichen Jäger. Einhergehend damit muss sich auch das Verhalten unserer Vorfahren radikal verändert haben. Neue innovativere Werkzeuge und Jagdtechniken werden erfunden, komplexere Jagdstrategien werden eingeübt. Das wiederum steigert den Jagderfolg. Das Gehirnvolumen kann sich weiter vergrößern und die Spirale zu höherer Effizienz sich so immer weiter drehen.

Fossilienfunde von angespitzten Holzspeeren lassen vermuten, dass der H. erectus (früheste Nachweise ca. ‎1,85 Mio. Jahren vor heute) bereits eine optimierte Physionomie für das Werfen entwickelt hat. Mit dem H. erectus tauchen in der Acheuléen-Kultur vor 1,75 Mio. Jahren auch erste Faustkeile auf. Die heutigen menschlichen Hände haben eine sehr spezielle und einmalige Anatomie, es sind hochentwickelte Greifwerkzeuge. Die Finger haben flache Nägel statt Krallen und vor allem fällt der im Vergleich zu allen anderen Primaten verlängerte und opponierbare Daumen auf. Er ermöglicht, mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger einen Faustkeil zu greifen oder ihn mit dem „Korbgriff“ aller fünf Finger zu halten und ihn dabei mit allen fünf Fingern zu bewegen. Das macht den heutigen Menschen zu Meistern des Werkzeuggebrauchs. Aber auch schon beim H. erectus erhöht die zugewonnene Geschicklichkeit der Hände in der Handhabung von Faustkeilen sicherlich die Effizienz bei der Jagd. Die damit verbesserten Ernährungsmöglichkeiten eröffnen ihm die Optionen auf ein noch größeres Gehirn. Bewegungsapparat in Abhängigkeit vom Gebrauch der Steinwerkzeuge und Wurfwaffen entwickeln sich in einer Koevolution weiter. Diese Fortschritte werden durch Kulturübertragung von Generation zu Generation weitergegeben und führen daneben zu evolutionären Veränderungen in den kognitiven Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Vormenschheit.

Ohne das entsprechende Wissen über Jagdwaffen und -techniken wären Gene, die das präzise und kraftvolle Werfen ermöglichen, überflüssig. Denn, wer bräuchte Gene für das Speerwerfen, wenn er nicht wüsste, wie man so ein Wurfgeschoss herstellt? Im Allgemeinen gilt in der Biologie: „use it or lose it“. Was nicht gebraucht wird, verschwindet auch irgendwann wieder aus dem Genpool.

Werkzeuggebrauch aber kann nicht oder nur äußerst rudimentär genetisch vererbt werden. Der Gebrauch von Pfeil und Bogen ist nicht in unserer DNS genetisch codiert worden, und nicht jedes einzelne Individuum kann die Herstellung und den Gebrauch eines Jagdbogens aus sich selbst heraus immer neu erfinden. Daraus folgt, dass nur die stetige und zuverlässig genaue Weitergabe solcher Fertigkeiten über Lernvorgänge einen verfeinerten Gebrauch von Gegenständen oder gar die Anfertigung von komplizierten Werkzeugen garantiert. Um aber dieses stetig anwachsende Wissen präzise und zuverlässig tradieren zu können, muss der Vormensch eine effiziente Form der Weitergabe von Wissen entwickeln: Sprache. Dafür benötigt er eine Feinkontrolle der Atmung mit einer entsprechenden Veränderung in der Muskulatur des Zwergfells und des Brustkorbs (Blackmore 2000, S. 155).

Es werde Mensch

Kein Schimpanse ist in der Lage, einen Song von Elton John auf einem Klavier zu spielen (Neuweiler 2005). Nicht, dass es ihm an Musikalität fehlen würde – das vielleicht auch – aber der wahre Grund liegt in der mangelnden Feinmotorik seiner Hände. Ihm fehlen noch die Möglichkeiten, seinen Fingern zu befehlen, diese schnellen Bewegungen zu verwirklichen. Und er kann diese präzisen Fingerbewegungen auch nicht in der benötigten Menge hintereinander ausführen.

Kein Schimpanse könnte zu den Klängen des Klaviers einen Song von Elton John singen. Auch hierbei liegt es primär nicht an der mangelnden Musikalität, sondern daran, dass kein Schimpanse artikulieren kann. Auch das liegt an der fehlenden Feinmotorik, hier: die Gesichts- und Kehlkopfmuskulatur präzise und schnell genug ansteuern zu können. Bemerkenswert dabei ist, dass sich die verbesserte Kontrolle über die Fingerfertigkeit und über die Mimik des Gesichtes schon bei den Primaten ankündigt, die Fähigkeit zur Artikulation von Sprache allerdings noch nicht.

Die Bewegungssteuerung bei Säugetieren verläuft über drei hierarchische Stufen: Kleine neuronale Netze im Rückenmark senden als unterste Instanz Signale z.B. an die motorischen Neuronen, die sich von Rückenmark bis zur Muskulatur ziehen. Im Prinzip kann also schon das Rückenmark die Grundbewegungen z.B. der Fortbewegung steuern. Das ist der Grund, warum geköpfte Hühner noch eine kurze Weile flügelschlagend laufen können. Welche Bewegungsmuster gerade benötigt werden, erfahren diese neuronalen Netze vom hierarchisch übergeordneten Nachhirn. Im Zuge der Evolution gerät nun diese Steuerzentrale ihrerseits unter die Kontrolle des Motorcortex, der sich wie ein Band über den Scheitel zieht. Das unmittelbar davor liegende prämotorische Areal, als Teil des Motorcortexes, liefert schließlich die Befehle für die zeitlich und räumlich abgestimmten Bewegungen. Hierbei werden auch Sinneswahrnehmungen und Assoziationen mit integriert.

Im Zuge der Evolution der Menschheit bahnt sich eine Neuerung an, eine Errungenschaft, „die schon das Verhalten der Primaten in vieler Hinsicht veränderte.“ (Neuweiler 2005, S. 27). Es entsteht eine Schnellstraße, die über die sogenannte Pyramidenbahn die Steuerung durch das Nachhirn übergeht und auch das Rückenmarkszentrum überbrückt, sodass das Vorderhirn nun eine direkte Kontrolle über die Bewegungsneuronen erlangt. „Auf dieser direkten Verbindung zwischen Hirnrinde und Muskelneuronen beruht wahrscheinlich die besondere Handfertigkeit von Primaten, wie auch des Menschen.“ (Neuweiler 2005, S. 27). Affen und Menschen können einzelne Finger bewegen, Katzen können das nicht. Angesteuert werden über diese Schnellstraße insbesondere die Hand- und Fingermuskulatur, beim Menschen darüber hinaus auch die Arm- und Schultermuskeln. Darum gelingt dem Menschen das zielgenaue Werfen, während ein Affe kaum einmal einen Nagel mit dem Hammer einschlagen kann.

Area F5

Was den Menschen noch am ehesten zu einem Alien auf diesem Planeten macht, ist seine Kompetenz als Manipulations- aber vor allem als Artikulationswesen. Das reichhaltige Repertoire der Schimpansenlaute wird von den Affenkindern nicht erlernt, sondern ist angeboren. Das dafür zuständige Hirnareal unterscheidet sich von den Sprachregionen im Hirn des Menschen. Und das ist nun des Pudels Kern: Die als F5 bezeichnete Hirnregion steuert bei Primaten die feinmotorischen Fähigkeiten der Hände und der Mimik, nicht aber deren Lautäußerungen. Bei Menschen hingegen ist die Area F5 deckungsgleich mit dem Sprachzentrum, dem Broca-Areal. Dieses Areal ist bei Menschen beim Sprechen und – wie bei den Primaten – bei der Steuerung der Feinmotorik von Hand- und Fingeraktivitäten involviert. Es verwundert daher nicht, dass wir nicht nur mit Lauten, sondern immer auch begleitend mit Gesten kommunizieren. Die Doppelrolle des Broca-Areals in Bezug auf die Steuerung der Feinmotorik und der menschliche Sprache lässt vermuten, „dass Sprache sich aus der zunehmenden manuellen Geschicklichkeit der Primaten entwickelte, was die sich rasch differenzierende Mimik mit einschließt.“ (Neuweiler 2005, S. 31).

Die Sprache beim Menschen entwickelt sich also aus der Hirnregion heraus, die für Feinmotorik ausgelegt ist. Die Feinmotorik wiederum entwickelt sich als Notwendigkeit, Werkzeuge zu erstellen und zu manipulieren. Werkzeuge fertigen zu können wiederum verlangt nach Lernen durch Nachahmung. Nachahmung wird sicherer und effizienter, wenn das Lernen durch sprachliche Unterweisung verstärkt wird.

„Sprechenkönnen“ und „Sprache“ gehören zusammen. „Sprechenkönnen“ ist genetisch angelegt, aber es macht nur Sinn, wenn es etwas gibt, was sich lohnt, gesprochen zu werden. Wir sehen eine innige Verschränkung von Werkzeuggebrauch, Anpassung der Motorik an den Werkzeuggebrauch und der Entwicklung der Sprache, also insgesamt eine wechselseitige Bedingtheit der Natur und der Kultur des Menschen. Sprache war dabei mindestens hilfreich, wenn nicht sogar notwendig für die Tradierung der Werkzeugherstellung und wie die Werkzeuge einzusetzen sind. Dabei evolvieren die Komplexität der kulturellen Gebrauchsgegenstände wechselseitig mit der Verbesserung der feinmotorischen Steuerung dieser Gegenstände und der Entwicklung von Sprache. Der Mensch mit seinem heutigen Genom ist also ohne die Entwicklung seiner Kultur nicht vorstellbar und anders herum ist die Evolution der menschlichen Kultur nicht vorstellbar ohne die genetische Entwicklung des H. sapiens. Kultur und Gene hängen sogar so eng zusammen, dass sich damit soziologische Zusammenhänge belegen lassen: „Der Übergang in eine Welt des Eigentums, der Hierarchie und des Patriarchats lässt sich auch genetisch nachweisen.“ (Krause 2021, S. 160).

Highspeed-Koevolution

Evolution kann relativ zügig voranschreiten, und das ist auch beim Menschen nicht anders. So verfügen wir heute über wesentlich mehr Gen-Kopien für die Produktion des Enzyms Amylase, als unsere jagenden Vorfahren und das lässt uns Kohlenhydrate deutlich besser verdauen – offensichtlich eine Anpassung an die aufkommende Landwirtschaft vor vielleicht 12.000 Jahren. Die Mutation zu Gunsten mehrerer Kopien des Gens AMY1B, das die Produktion der Amylase steuert, kann bei Angehörigen von Agrarvölkern nachgewiesen werden, nicht aber bei Jägern und Sammlern oder gar bei Neandertalern und Denisovaner, die ohne Landwirtschaft auskamen. Noch eindrucksvoller ist, dass sich diese Genveränderung nicht nur beim Menschen, sondern sogar bei dem von ihm domestizierten Hund nachweisen lässt! Wölfe verfügen lediglich über zwei Kopien des Gens AMY2B. Hunde weisen dagegen mehr als zwei Kopien auf. Offenbar werden sie im Zuge der beginnenden Agrarwirtschaft, als stärkehaltige Nahrung in größerem Umfang zur Verfügung steht, ebenfalls in diese Richtung hin selektiert (Shipman 2021).

Die Haut von Europäern wird in Abhängigkeit von der geographischen Breite heller, da hellere Haut eine effizientere Synthese von Vitamin-D erlaubt. Diese Mutation geschieht ebenfalls mit der Einführung der Landwirtschaft im Abhängigkeit zur Ernährungsumstellung auf Getreide. Denn Getreide enthält kaum Vitamin-D. Landwirtschaft und Aufhellung der Haut vollziehen sich also gleichschrittig, in einer Art Koevolution von Genen und Kulturbausteinen. Hoch im Norden, wo keine Landwirtschaft möglich ist, erwächst den Inuit Grönlands aus ihrem tierischen, sehr fettreichen Nahrungsangebot ein effizienterer Fettstoffwechsel.

Eine vor weniger als 7.500 Jahren auftretende Genveränderung mit großer Tragweite wird durch die Rinderhaltung eingeleitet. Sie begünstigt, unabhängig voneinander in einigen afrikanischen und europäischen Populationen erworben, die genetisch fixierte Laktosetoleranz. Die Inhaber dieser Genvariante können Milch und Milchprodukte auch als Erwachsene ohne Probleme verdauen. Das Laktosepersistenz-Allel (LP-Allel) verleiht „seinen Trägern einen enormen Selektionsvorteil.“ (Curry 2016) (Ein Allel entspricht einer bestimmten DNA Sequenz eines Gens an einem bestimmten Ort im Genom. Zum Beispiel gibt es je ein verschiedenes Allele für die Ausprägung der Blütenfarbe weiß oder violett bei Erbsenpflanzen.) Träger mit dem LP-Allel bringen bis zu 19 Prozent mehr Nachkommen in die nächste Generation ein, als Menschen ohne LP-Allel. Einige hundert Generationen reichen aus, dem LP-Allel kontinentweit zum Durchbruch zu verhelfen. Neuere Forschungen ergeben eine Schätzung von rund 3.000 Jahren, in denen sich diese Genvariante in Mitteleuropa weitgehend durchsetzt (Fischer 2020). Allerdings nur dort, wo genügend Frischmilch vorhanden gewesen ist und Molkerei betrieben wird. Wir sehen auch hier: „Gene und Kulturtechniken koevolvieren, sie ergänzen sich und profitieren voneinander.“ (Curry 2016).

Das LP-Allel ermöglicht aber nicht nur das Dasein als Viehzüchter, sondern ist möglicher Weise kriegsentscheidend während der Kriegszüge der Mongolen gegen China gewesen. Mongolische Reiter verfügen über das adulte LP-Allel und können sich so von der energiereichen Milch ihrer Reittiere ernähren. In Folge brauchen sie einen sehr viel kleineren Tross für die Nahrung und sind mobiler als das chinesische Heer gewesen – ein möglicher Weise kriegsentscheidender Vorteil!

Kulturelle Konvergenz

Ähnliche Herausforderungen führen zu ähnlichen Lösungen. Was für den Körper von Organismen gilt, gilt im gleichen Maße auch für die menschliche Kultur. Die Entwicklung der menschlichen Kulturen verläuft vorhersehbar bemerkenswert gleichförmig. Diese Parallelität ist schon David Hume (1711-1776) aufgefallen, wenn er schreib: „Man gesteht allgemein zu, dass eine große Regelmäßigkeit im menschlichen Handeln bei allen Völkern und zu allen Zeiten besteht, […]. Die Menschen sind in allen Zeiten und Orten so sehr dieselben, dass die Geschichte uns hierin nichts Neues oder Fremdes bietet.“ (Hume 1748 (1869)).

Wenn wir hier annehmen, dass die Ausprägung der menschlichen Kultur der Evolution unterliegt, ergeben sich die Ähnlichkeiten der verschiedenen menschlichen Kulturen zwanglos. Sie beruhen auf der grundlegenden biologischen und psychologischen Natur des Menschen, auf seiner Umwelt und den universellen Bedingungen der menschlichen Existenz, also auf der Epigenetik, so wie Wilson sie versteht. Oder, wie Hume es ausdrückt: „Die Ehrsucht, der Geiz, die Selbstliebe, die Eitelkeit, die Feindschaft, der Edelmut, der öffentliche Geist; all diese Leidenschaften haben in verschiedenen Mischungen und Ausheilungen unter den Menschen von Beginn der Welt und noch heute die Quelle aller Handlungen und Unternehmen unter den Menschen gebildet.“ (Hume 1748 (1869))

Zwar hat der Mensch unterschiedliche ökologische Umgebungen besiedelt, von den eisigen Steppen des Nordens bis zu den feuchtheißen Urwäldern rund um den Äquator, aber überall gibt es eine herausragende Konstante: Das wichtigste Merkmal der menschlichen Umwelt ist, früher wie heute, die Anwesenheit anderer Menschen. Vornehmlich daran hat sich der Mensch angepasst. Das ist die adaptive Erklärung, sowohl für die soziale Gefühlswelt des H. sapiens, als auch der Grund für die vielen anderen Gemeinsamkeiten, die uns Menschen über die gesamte Welt hinweg auszeichnen.

Die allgemeinen kulturellen Merkmale hängen mit Sprache, Ernährung, Behausung, Kunst, Mythologie, dem zwischenmenschlichem Umgang und mit der Einstellung zu Eigentum, Macht und Krieg zusammen (Christakis 2019, S. 30). In allen Kulturen der Welt erfüllt Musik ähnliche Funktionen: „etwa Singen, um Kinder zu beruhigen oder zum Schlafen zu bringen, Musik zur Partnerwerbung, beim gemeinsamen Arbeiten, im Krieg und nicht zuletzt im religiösen Rahmen, etwa um Trance zu induzieren.“ (Willems et al. 2017).

Bausteine, die wir in fast jeder Kultur wiederfinden können, lassen sich als das Grundgerüst unserer kulturellen DNS ansehen. Nach dem Ethnologen George Peter Murdock sind dies Universalien: „Religiöse Rituale, Seelenkonzepte, Eschatologie, Kosmologie, Aberglaube, Traumdeutung, Magie, Wahrsagerei, Wunderheilglaube, Medizin, Chirurgie, Schwangerschaftssitten, Geburtshilfe, Geburtsnachsorge, Beerdigungsrituale, Hygiene, Sauberkeitserziehung, Speisegesetze, Gesetze, Eigentumsrechte, Hausrecht, Regierungsbildung, Standesunterschiede, Bevölkerungspolitik, Besiedlungsprinzipien, Kommunalorganisationen, Strafaktionen, Sühneopfer, Erbschaftsregeln, sexuelle Verbote, Inzest-Tabus, Pubertätsverhalten, Liebeswerben, Eheschließung, Mahlzeitengewohnheiten, Familienfeiern, Erziehung, Verwandtschaftsgruppierungen, Verwandtschafts-Nomenklatura, Altersgruppen-Differenzierung, Arbeitskooperation und Arbeitsteilung, Handel, Gärtnern, Kalender, Wetterbeobachtung, Werkzeugfabriken, Webkunst, Feuergebrauch, Kochen, Sprache, Ethik, Etikette, Folklore, Geschenke, Begrüßungsformen, Gesten, Besuchsbrauchtum, Gastfreundschaft, Spiele, Tanz, Sport, Witze, Haartrachten, Körperschmuck, Ornamentkunst, Personennamen.“ (Wilson 2000, S. 198).

Die Ähnlichkeiten in der Ausprägung der verschiedenen Kulturen beschränken sich nicht nur auf diejenigen kulturelle Universalien, die wir fast allerorts wiederfinden, wie Kleidung und Hütten, Musik, Tanz, und Körperverschönerungen. Denn kulturelle Entwicklungen sind kontextabhängig, sie sind nicht gänzlich unabhängig von der Umwelt, in der sie entstehen. Die Erfindung von Netzen zum Fischfang kann nur dort gemacht werden, wo Menschen das Wasser als Jagdrevier entdecken. Dort, wo Getreide schlecht angebaut werden kann, entwickelt sich die Viehwirtschaft. In Regionen, wo weder Land- noch Viehwirtschaft möglich ist, z.B. in Polarregionen, wird logischer Weise eine Jagdkultur beibehalten.

Die Entstehung der Hochkulturen auf dem Euroasiatischen Kontinenten und den amerikanischen Doppelkontinent verläuft zwar nicht zeitgleich, aber erstaunlich analog: Mit dem Ende des Eiszeitalters versiegt in Eurasien und Amerika die Hauptnahrungsquelle „Großwild“. In Folge ändern die Eurasier und auch die nomadisch lebenden Bewohner Mittelamerikas ab dem 10. Jahrtausend v. Chr. allmählich ihre Lebensweise. Man fängt hier wie dort an, Wildpflanzen intensiver zu nutzen und sie auch zu kultivieren.

Insbesondere in den Anden und in Mexiko entstehen im 5. Jahrtausend v. H. dauerhaft bewohnte Dörfer. Gleichzeitig werden immer mehr Pflanzenarten und auch einige Tiere domestiziert. Um 4400 v. H. entsteht in Altamerika die Keramiktechnologie und vor ca. 3.300 Jahren v. H. entwickeln sich aus den dörflichen Gemeinschaften erste Städte und hierarchisch organisierte Gesellschaften mit mächtigen Eliten. Das Fundament, auf dem die Hochkulturen der Olmeken, Maya und Inka, ebenso wie auch die Hochkulturen Eurasiens, aufbauen, gründet sich auf einer Jahrtausende dauernden Entwicklungsphase hin zu einer ertragreichen Landwirtschaft (Gendron 2013).

Am eindrucksvollsten sind die Parallelen in Bezug auf Monumentalbauten: In Eurasien wie auf dem amerikanischen Doppelkontinent werden riesige Pyramiden zu kultischen Zwecken aufgetürmt. Fast alle Religionen errichten Kultstätten, Tempel, Synagogen oder Kathedralen, je nach Größe und Möglichkeit der Bevölkerung, egal wo auf der Welt. Es entstehen Bilderschriften, Zahlensysteme und eine dazu passende Mathematik, diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans.

Wir finden also gute Argumente dafür, sowohl den Körper des Menschen wie auch seine Kultur als von der Evolution geprägt zu betrachten. Die weiterführende Frage ist: Gibt es ein dahinter liegendes Prinzip zwischen dem Menschen als Organismus und dem Menschen als Kulturwesen? Ein Bindeglied, das uns gewissermaßen Körper und Geist, Natur und Kultur des Menschen miteinander verbindet? Dieser Fragen werden uns als nächstes widmen.

Information als Grundbausteine von Biologie und Kultur

Die Ausführungen über die Emulation zeigen, dass es für dasselbe Problem für einen Organismus eine Hardware wie auch eine Softwarelösungen geben kann, dass beides austauschbar ist oder zusammenarbeiten kann. Und weiter haben wir gezeigt, dass sich die menschliche Natur und Kultur zum Teil in Koevolution entwickelt haben. Viele kulturelle Entwicklungen hat es nur geben können, weil sich gleichzeitig unser Körper an diese neuen Entwicklungen angepasst hat. Nun wird es Zeit, all dies in einen grundlegenden Zusammenhang zu bringen. Das entscheidende Bindeglied von der Materie des Universums über die Evolution der Organismen bis hin zu unserem Geist ist „Information“. Was immer auch genau evolviert, fest steht, dass das Besondere der Gene die Fähigkeit ist, Informationen zu codieren. „Gene sind nichts anderes als ein Speicher, mit dem biologische Systeme Information aufbewahren und weitergeben.“ (Christakis 2019, S. 215). Und auch Kultur besteht zunächst einmal aus den Informationen, die nötig sind, Kultur zu schaffen: Informationen über die Herstellung von Faustkeilen und wie man damit umgeht, oder wie man ein Auto baut und fährt.

Die DNS hat eine enorm hohe Speicherdichte und ist vergleichbar sehr langlebig. Forschern um George Church vom Wyss Institute der Harvard University gelingt es, ein ganzes Buch in Form von DNS zu speichern und wieder auszulesen. Sowohl beim Schreiben (Synthetisieren) der DNS, als auch beim Lesen (Sequenzieren), verwenden die Forscher Standardequipment, das heute in fast jedem besseren gentechnischen Labor zu finden ist. Das Buch wird in einer Abfolge von Nullen und Einsen im HTML-Format codiert, also in einem Computerdialekt, in dem auch Internetseiten verfasst werden. Die Wissenschaftler weisen den zwei Nukleotiden der DNS – Guanin und Thymin – die „1“ des digitalisierten Textes zu, den verbleibenden beiden Basen der DNS, Adenin und Cytosin, die „0“. In einem weiteren Schritt lesen sie das Buch wieder aus. Dabei erhalten sie unter den 5,27 Mio. codierten Informationen lediglich zehn falsche Bits (Dönges 2012) (Als Bit bezeichnen Informatiker die kleinste Informationseinheit: „null“ oder „eins“, „an“ oder „aus“, „geladen“ oder „ungeladen“). Das menschliche Genom enthält, nebenbei erwähnt, ungefähr 0,75 Gigabytes an Informationen, also etwa so viel, wie auf eine CD passt (Biologie-seite.de).

Forscher haben auch versucht, abzuschätzen, welche Datenmenge ein Mensch für die Beherrschen seiner Muttersprache benötigt, was also unser Gehirn dafür bereitstellen muss. Als kleinste Einheit legen die Forscher Phoneme fest, also die Laute, aus denen wir Wörter zusammensetzen. Dafür veranschlagen sie im Durchschnitt 15 Bits. Weiter gehen sie von einem Wortumfang für einen typischen jungen Erwachsenen von durchschnittlich 40.000 Wörtern aus, und den Bedeutungsinhalt dieser Wortmenge schätzen sie auf ca. 550.000 Bits. Insgesamt hat nach den Schätzungen dieser Forscher „ein englischsprechender Erwachsener 12,5 Millionen Bits an Sprachdaten gespeichert.“ (Podbregar 2019). Das entspricht etwa 1,5 Megabytes, also etwa doppelt so viel, wie unser Genom umfasst und weit weniger als eine Bilddatei auf Ihrem Smartphone.

Dass diese Betrachtungsweise nicht nur Wissenschaftsesoterik ist, sondern handfeste Folgen für uns alle bereithält, kommentiert Sacha Lobo im DER SPIEGEL in Bezug auf die neuen Biotech-Firmen und der Entwicklung von nRNS-basierten Impfstoffen: „Es beginnt damit, dass DNS letztlich nur Daten sind. Die berühmten vier Buchstaben G, C, A und T, die Anfangsbuchstaben der Nukleinbasen, aus denen der DNS-Code besteht, entsprechen null und eins der digitalen Welt. Soweit, so hinlänglich bekannt. In der Folge lässt sich deshalb aber jedes biologische Problem als Datenproblem beschreiben, jede Krankheit als Bug, jeder biologische Wirkstoff als Algorithmus.“ (Lobo 2021).

Grundsätzliches zur Information

Wenn die DNS letztlich nur ein Datenspeicher ist, müssen wir uns zunächst einiges Grundlegendes zur Information ansehen: Der Physiker und Philosoph Frank Schweitzer schreibt: „Ebenso wenig, wie eine Einheit der Wissenschaften in Sicht wäre, ebenso wenig ist auch eine einheitliche Informationstheorie […] in Sicht.“ (Schweitzer, 1997). Claude Shannon und Warren Weaver entwickeln 1949 ein Sender-Empfänger-Modell der Informationsübertragung für die Nachrichtentechnik und die Informatik. In ihrem Modell geht es um elektrische Ladungszustände, um Signale, die diese Ladungszustände übertragen und verändern, und um die Speicherung dieser Ladungszustände. Die Bedeutung der Informationen ist dabei sozusagen bedeutungslos. In dem vom britischen Soziologen Stuart Hall entwickelten Sender-Empfänger Modell geht es um die Übertragung einer Nachricht von einem Sender A zu einem Empfänger B und zusätzlich darum, wie die Bedeutung der Nachricht dabei vom Sender codiert und vom Empfänger decodiert wird. Hier haben wir zwei verschiede Aspekte: die Information an sich, so wie dieser Begriff eher von Ingenieuren benutzt wird, und die Information als Bedeutungsträger, so wie eher die Geisteswissenschaftler den Begriff verwenden. Die Nachrichtentechnik kümmert sich nicht um die Bedeutung, die Soziologen dagegen interessieren sich vor allem für die Bedeutungsproduktion. Wir werden sehen, dass beides in sehr einfacher Weise zusammenpasst.

Information und Wirklichkeit

Fangen wir hier nun ganz grundlegend an. Denn wie eingangs erklärt, sind es die Grundannahmen, die wesentlich die Tragfähigkeit einer Theorie bestimmen. In der Quantenphysik stoßen wir auf dermaßen undurchschaubare Phänomene, dass der Physiker John Weeler formuliert: „It from bit“. Wir gehen normaler Weise vom umgekehrten aus: Bit from it: Erst ist da die Welt (it), dann bekommen wir Information über sie (bit): „Man begreift die Welt, indem man ihr Informationen abringt.“ (Weyh (2019).

Der Physiker Weeler sieht es anders herum: „Information kann nicht nur das sein, was wir über die Welt „lernen“. Sie kann das sein, was die Welt „macht“. […] Wenn ein Photon absorbiert und dadurch „gemessen“ wird – bis zu seiner Absorption hat es keine Wirklichkeit –, wird ein unteilbares Informations-Bit zu dem hinzugefügt, was wir über die Welt wissen, und gleichzeitig determiniert das Informations-Bit die Struktur eines kleinen Teils der Welt. Es ‚schafft‘ die Realität von Zeit und Raum dieses Photons.“ (Weyh (2019). Der Messvorgang erst zwingt das Elementarteilchen, Realität zu sein.

Da das wirklich nur ein Quantenphysiker verstehen kann, zur Erläuterung hier das berühmte Doppelspalt-Experiment: Licht – es besteht aus sogenannten Lichtquanten oder Photonen – wird durch zwei eng nebeneinander liegende Spalten auf einen Schirm geworfen. Was wir auf diesem Schirm sehen werden, ist ein sogenanntes Interferenzmuster, bestehend aus abwechselnd hellen und dunklen Streifen. Das Licht scheint sich als Welle durch beide Spalten gleichzeitig hindurch zu drängen. Wie zwei Steine, die man ins Wasser wirft, breiten sich hinter den zwei Spalten Wellenberge und -täler aus, und wo sie zusammentreffen, verstärken sich die Wellenberge (helle Bereiche auf dem Schirm) und löschen sich Wellenberge und Wellentäler gegenseitig aus (dunkle Bereiche). Nun möchte man gern wissen, was genau da an einem der Spalten passiert. Wir stellen also einen Detektor auf, der misst, wenn das Licht vorbeikommt. Und nun wird es spooky: Lichtquanten passieren jetzt nicht mehr beide Spalten gleichzeitig als Welle, sondern sie suchen sich als Teilchen je nur einen der beiden Spalten aus. Auf dem Schirm sehen wir nun kein Streifenmuster mehr, sondern ein Streumuster einzelner Lichtpunkte. Die Messung, also die Information, die wir erhalten, erschafft sozusagen das Lichtteilchen als Teilchen, während es davor nicht „real“ existiert, we Weeler meint. Unsere Informationen, die wir erhalten, schaffen erst die Wirklichkeit, die wir messen.

Für Weeler sind damit Informationen und nicht irgendeine „Wirklichkeit“ das Fundamentale! Physikalisches Sein und der Informationsgehalt der gemessenen, beobachteten und wahrgenommenen Welt sind für uns untrennbar miteinander verbunden. „Information“ ist der Begriff, der für uns alle Erscheinungen und Vorgänge zueinander in Beziehung setzt (Mascheck 1986, S. 3).

Der Physiker Anton Zeilinger (undatiert) stellt dazu noch schmunzelnd fest: Es wäre fair, zuzugeben, dass das Konzept: „Information sei fundamental“ in Wirklichkeit uraltes menschliches Wissen sei, dargelegt schon in der Heiligen Schrift. Denn dort stünde: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. 3 Alles wurde durch dasselbe…“ (1.Joh. 1-2, Elberfelder Bibel 1905).

Der Begriff Information ist nicht nur in der Quantenmechanik von zentraler Bedeutung, sondern auch in der anderen grundlegenden physikalischen Theorie, der Relativitätstheorie. Douglas Adams schreibt in seinem Buch „Mostly harmless“ in Kenntnis der Relativitätstheorie ironisch, dass nichts im Universum schneller sei als das Licht – außer schlechte Nachrichten! Er entwirft die Utopie einer Zivilisation, die Raumschiffe konstruiert hätte, die mit schlechten Nachrichten angetrieben würden. Auf diese Weise können diese Aliens überlichtschnell reisen. Aber genau das schließt die Relativitätstheorie aus: einen Informationsaustausch in Überlichtgeschwindigkeit. In der Relativitätstheorie geht es darum, wann und in welcher Reihenfolge Signale von bewegten Objekten empfangen werden. Informationen dürfen sich nur höchstens lichtschnell ausbreiten, sonst gibt es Konfusionen im Kosmos, der kausale Zusammenhang von Vorher und Nachher gerät durcheinander. Die fiktive Antriebstechnik der Aliens setzt sich übrigens nicht durch, weil die damit reisenden Raumschiffe wegen der schlechten Nachrichten nirgendwo gern gesehen sind.

Der ganz große Computer

Die meisten von uns verstehen unter einem Computer einen meist grauen Kasten mit einigen Siliziumchips auf einer Platine im Inneren, strombetrieben. Für Physiker jedoch ist jedes physikalische System ein Computer: Steine, Hängebrücken, Ozeane oder Wirbelstürme. Zwar läuft keines dieser Systeme unter Windows, iOS oder Linux, aber auch diese Systeme speichern und verarbeiten Informationen. Anton Zeilinger meint dazu, dass Physiker, bezogen auf ein „elementares System“, letztlich sogar nur über Informationen sprechen. Ein elementares System sei nichts anderes als der Repräsentant dieser Informationen, es sei ein Konzept, das wir nur aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Information bilden können (Kaeser 2019).

Grundlegend dafür, solche Systeme als Computer zu begreifen, ist das zentrale Axiom der Quantenmechanik: Alles lässt sich auf kleinste unteilbare Einheiten zurückführen – die Welt ist im Innersten digital! Energie, Masse und selbst die Zeit bestehen aus kleinsten unteilbaren Einheiten, die Physiker tauften sie Quanten. Am besten lässt sich die Idee des Quantums mit dem Beispiel einer Digitaluhr verstehen. Während bei einer Analoguhr der Zeiger kontinuierlich über das Ziffernblatt wandert, springen die Ziffern einer Digitaluhr von Einheit zu Einheit, also etwa von 11.55 zu 11.56, von einer Minute zu nächsten. Halbe Minuten existieren auf dieser Uhr nicht, und auch im Universum gibt es kein Dazwischen innerhalb der Spanne der kleinsten möglichen Zeitspanne, des Zeitquants. Das Universum im Innersten ist nicht kontinuierlich, sondern diskret, bzw. digital, oder bildlich gesprochen: „körnig“. Die Zeit verstreicht in unserer Welt nicht wie auf einer Analoguhr kontinuierlich, sondern springt, wie auf einer Digitaluhr, von Einheit zu Einheit.

Jedes Elementarteilchen aus dem Standardmodell der Physik, ob Elektron oder die aus Quarks aufgebauten Teilchen Protonen oder Neutronen, lassen sich anhand von drei Grundmerkmalen identifizieren: Masse, Ladung und Drehimpuls (Spin). „Diese drei Freiheitsgrade werden nicht vom Beobachter erzeugt, sondern sind schon vorhanden – am wahrscheinlichsten im Teilchen selbst, […]. Sie sind wie ein Etikett oder eine ‚Partikel-DNA‘. Daraus ergibt sich, dass die Materie allein durch ihren Aufbau aus solchen Elementarteilchen schon eine gewisse Mindest-Informationsmenge speichert – ohne Berücksichtigung der zusätzlich aus der chemischen Struktur oder den Wechselwirkungen generierten Daten.“ (Podbregar 2021).

Der Spin eines Elektrons ist eine Art Drehimpuls, der in zwei Richtungen weisen kann: „links“ oder „rechts“ herum. Der Spin kann damit genau ein Bit repräsentieren. Durch eine Wechselwirkung mit einem anderen Teilchen kann sich der Spin umkehren, also in die andere Richtung wechseln. Damit repräsentiert die Umkehrung des Spins eine logische Operation, es wird ein Rechenschritt ausgeführt. Jedes Mal, „wenn zwei solche Partikel in Wechselwirkung treten, werden diese Bits umgewandelt.“ (Lloyd. & Ng 2005, S. 32). Das Universum und seine Entwicklung lässt sich so vollständig „auf die Wechselwirkungen kleinster Stücke von Information zurückführen.“ (Moskowitz 2017). Damit ist für einen Physiker „jedes physikalische System ein Computer“, insbesondere das Universum als Ganzes lässt sich als ein solcher interpretieren (Lloyd & Ng 2005, S. 32). – It from bit – and works like a computer.

Informationen besitzen also eine physikalische Grundlage und werden in einer physikalischen „Umwelt“ verarbeitet. Informationsübertragung ist das, was zwischen Ursache und Wirkung stattfindet. Informationsübertragung geht von einer spezifischen Anordnung aus, die durch eine Wechselwirkung eine Zustandsänderung erfährt. Allerdings sind alle physikalischen Informationen zunächst bedeutungsfrei, sie besitzen (für uns) keinen Bedeutungsinhalt. Soziologen können daher mit dieser Art von Informationstheorie nicht viel anfangen. Ihnen geht es um die Bedeutung von Informationen. Eine Ameise kriecht durch den Sand und hinterlässt Spuren, die zufällig eine Karikatur von Winston Churchill darstellen. Das Problem ist nun: Was macht die Spur im Sand zu einer Karikatur? Was gibt der physikalischen Veränderung im Sand diese Bedeutung? Die Absicht, etwas zu zeichnen, hatte die Ameise keinesfalls. Für uns ist die Spur eine Karikatur, für die Ameise keine. Die Bedeutung der Spur als Karikatur gäbe es nicht, gäbe es nur Ameisen.

Ordnung und Information

Alles ist Information, diese Entdeckung ist an sich wenig hilfreich. Wir müssen uns auf die Suche machen, wie wir einer Information eine Bedeutung zuordnen können. Information können wir im Deutschen von dem Begriff „in-Form“ ableiten. Informationen sind Muster oder bestimmte Anordnungen. Ein prominentes Beispiel für „Information“ in physikalischen Anordnungen stammt aus der Thermodynamik, wo der Begriff Information über die Statistik mit physikalischen Systemen verknüpft wird.

Die aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik abgeleitete Zustandsfunktion Entropie ist ein Maß für die Ordnung eines Systems, wobei jedes System dem Zustand größtmöglicher Unordnung zustrebt. Dieser Zustand ist gleichzeitig der Zustand des geringsten Energieniveaus. Wenn Sie einmal Ihren Schreibtisch im Auge behalten, können Sie den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik live beobachten: Ihre schöne Ordnung auf dem Schreibtisch, (wenn sie denn je vorhanden war,) wird sich mit der Zeit verflüchtigen, die Unordnung steigt allmählich an, bis alles gleichmäßig unordentlich über Ihren Schreibtisch verteilt ist – es sei denn, Sie stecken Energie hinein und räumen auf.

„Aufräumen“ bedeutet Energie aufzuwenden, unordentlich wird in unserer Welt alles von allein. Wie sehr dieses Gesetz auch unser tägliches Leben durchdringt, können Sie in jedem Supermarkt nachlesen: Auf jedem Produkt steht ein Verfallsdatum, also ein Datum, ab dem die Entropie möglicher Weise schon so weit zugeschlagen hat, dass das Produkt ungenießbar geworden ist. Und, wir können es durchaus persönlich nehmen, wir alle werden sterben, weil die unglaublich komplexe Ordnung in unserem Körper irgendwann aus dem Tritt geraten wird, unser Leib irgendwann zerfällt.

Entropie verknüpft Information mit einem bestimmten Muster, mit einer Anordnung. Haben wir einen Behälter mit zwei verschiedenen Gasen, die durch eine gasdichte Trennwand voneinander getrennt sind, und ziehen wir diese Trennwand heraus, so vermischen sich diese beiden Gase. Der Zustand, dass alle Atome eines Gases auf der einen Seite und die Atome des anderen Gases auf der anderen sind, ist nur eine ganz bestimmte Konfiguration, eine bestimmte Ordnung. Die Gasmoleküle können sich aber beliebig anders anordnen, sie könnten sich z.B. alle in eine Ecke drängen. Warum wir das nie beobachten, hat rein statistische Gründe: Es handelt sich um einen unter fast unendlich vielen Mikrozuständen, die die Moleküle des Gases einnehmen können. Da jede Anordnung der Moleküle mehr oder weniger gleich wahrscheinlich ist, ist es fast unmöglich, eine vorher festgelegte Anordnung zu beobachten. Information ist hier ein Maß für die statistische Vorhersagbarkeit bestimmter Muster.

Es ist unwahrscheinlich, dass sich alle Gasmoleküle in eine Ecke drängen, aber es ist eben nur unwahrscheinlich und nicht ausgeschlossen. Information hängt hier also eng mit dem Begriff einer vorgegebenen Ordnung, einem ganz speziellen Muster zusammen. Vielleicht macht eine Lottoziehung das Ganze verständlicher: Jedes Mal werden bei einer Ziehung 6 aus 49 Kugeln zufällig ausgewählt. Es gibt ungefähr 14 Mio. verschiedene Zahlenkombinationen, die alle mit derselben Wahrscheinlichkeit gezogen werden können. Wenn ich mich in meinen Sessel setze und die Ziehung der Lottozahlen verfolge, werde ich leider nicht beobachten, dass „meine“ Zahlen gezogen werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zu gering! Aber wenn 14 Mio. Menschen mitspielen, wird vermutlich irgendjemand in seinem Sessel sitzen und jubeln, weil seine Kombination gezogen wird! Für mich als Verlierer und für den Gewinner sind die Chancen zu gewinnen gleich groß.

Während Information und Informationsübertragung in der Physik vor allem das Sein und die Kausalität beschreiben, haftet einer bestimmten Anordnung, z.B. den Nummern auf meinem Lottoschein, gelegentlich etwas Bedeutsames an.

Das geheimnisvolle Muster

Das Universum ist ein einziger, wirklich sehr großer Computer, aber was unser Kosmos da so genau vor sich hin rechnet, hat zunächst einmal keine Bedeutung. Und Informationen sind in bestimmten Anordnungen gespeichert. Die Frage ist nun: Wenn Informationen Muster oder bestimmte Anordnungen sind, was macht dann ein bestimmtes Muster zu einem „besonderen“ Muster, zu einer „bedeutungstragenden“ Information, so wie wir diesen Begriff normaler Weise gebrauchen? Um einer Information eine „Bedeutung“ zu verleihen, benötigen wir offenbar eine zusätzliche „Meta“-Information, die uns das Besondere eines Musters vermittelt, eine Information, die uns ein ganz bestimmtes Muster aus allen möglichen Anordnungen extrahieren hilft. Mein Lottoschein mit seinen sechs Zahlen ist so ein bestimmtes Muster. Für mich hat diese Anordnung eine besondere „Bedeutung“, weil sie mir viel Geld verspricht. Mein Lottoschein hebt für mich eine Kombination von Zahlen aus allen anderen Kombinationen von sechs Zahlen aus 49 heraus: Ich gewinne nur dann, wenn dieses Muster bei der Ziehung der Lottozahlen repliziert wird.

Das Auswahlkriterium, das wir benötigen, also die Meta-Information, ist: das Muster selbst. Das ist eine überraschend einfache, ebenso naheliegende wie zwingende Schlussfolgerung. Bedeutung erlangt mein Lottoschein, wenn meine Tippreihe und die gezogenen Zahlen übereinstimmen. Derselbe Mechanismus wirkt bei der Karikatur von Winston Churchill. Eine Karikatur von Winston Churchill ist erst eine Karikatur von Winston Churchill, wenn ein Mensch die Spur im Sand mit einer ähnlichen Information in seinem Gehirn vergleichen kann. Der Abgleich zwischen mehr oder weniger identischen Mustern ist eine Möglichkeit, einem Muster Bedeutung zu verleihen, weil wir eine neue Information mit einer schon bestehenden Information vergleichen können. Und genau dieser Abgleich ist, wie wir gleich sehen werden, die Grundlage der Existenz von Leben, so wie wir es kennen. Witziger Weise greift auch der Gott des Alten Testaments in der Schöpfungsgeschichte auf diesen Trick zurück: „Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bild, als sein Ebenbild schuf er ihn.“ (1.Mose1.27, Neue Evangelistische). Gott hat also mit dem Menschen genau genommen nicht etwas Neues, sondern eine (vielleicht nicht ganz genaue) Replik seiner selbst geschaffen. Diese Selbstbezüglichkeit ist die wesentliche Zutat der Schöpfung: Ein Muster schafft sich sein eigenes Ebenbild.

Das Buch des Lebens

Eine allgemein anerkannte Eigenschaft von Informationsübertragung ist, dass sie eine Veränderung im empfangenden System hervorruft. Informationsübertragung ist eine Formübertragung, die etwas, was eine bestimmte Form aufweist, in eine andere „Form“ überführt, zum Beispiel den Spin eines Elektrons von linksdrehend zu rechtsdrehend. Die Selbstbezüglichkeit führt uns nun zu einer besonderen Klasse von Informationsübertragungen: der Replikation. Wenn eine bestimmte Anordnung von Atomen die „Fähigkeit“ erwirbt, ihrer Umgebung ihr eigenes Muster aufzuprägen, so ist das, wie wir gleich sehen werden, etwas „Besonderes“. Eine Information generiert in ihrer Umwelt eine identische Abbildung dadurch, dass sie selbst die Kopiervorschrift darstellt. Selbstreferenz oder Replikation aus dem Hintergrund des immerwährenden Informationsrauschens des Universums herauszuheben, schafft uns auf elegante Weise den Übergang von der Physik zur Evolution: Denn die Biologie ist der Ort, wo wir die Meister der Replikation finden, die Gene. Vererbung ist, nach dem Sender-Empfänger-Model von Shannon & Weaver, im Idealfall eine „gelungene Kommunikation“: „Die Kommunikation kann als erfolgreich gewertet werden, wenn die gesendete Nachricht mit der empfangenen identisch ist.“ (wikipedia 03).

Moleküle haben eine gewisse Form und besitzen damit eine bestimmte „In-Form-ation“. Irgendwann hat sich auf der Erde etwas ganz Besonderes gebildet, vielleicht ist es ein RNS-Molekül. Dieses (vermutliche) RNS-Molekül besitzt die Fähigkeit, Informationen auf seine Umwelt in der Art zu übertragen, dass als chemische Reaktion am Ende wieder dieselbe Information steht, nämlich die Form des Ursprungsmoleküls. Der belgische Biochemiker Christian de Duve nennt es den „Anbruch des Zeitalters der Information“, als sich dieses besondere informationstragende Molekül auf der Erde ausbreitet. Es setzt „die neuen Vorgänge der Darwinistischen Evolution und der natürlichen Selektion in Gang.“ (de Duve 2008, S. 74). Ich würde an dieser Stelle sagen, es ist der Anbruch des „Zeitalters der bedeutungstragenden Information“.

Dass ein komplexes Molekül lange existiert, ist nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eigentlich unmöglich: Alles geht irgendwann kaputt. In der Biologie nennen wir es Tod. Der geniale Trick der RNS und später der DNS besteht darin, ehe sie zerfällt, sich neue Kopien ihrer selbst zu schaffen. Das gelingt natürlich um so besser, je mehr das Ursprungsmolekül auf die Neubildung der Replikation Einfluss ausübt.

Das RNS- Molekül trägt nicht nur die Informationen über den eigenen Aufbau, sondern kommuniziert diese Informationen auch in seine Umwelt. Das kann nur gelingen, weil die Informationen so an die Umwelt angepasst sind, dass sie verstanden und in den Bau chemischer Substanzen umgesetzt werden können.

Wir sehen bereits auf dieser Stufe des Lebens, wie eng Organismen und Umwelt zusammenhängen: Wenn die Umwelt keine entsprechenden Materialien zur Verfügung stellt, ist auch keine Replikation möglich.

Ein nächster Schritt hin zum Lebendigen ist es, die direkte Umwelt der RNS oder DNS in eine Hülle einzuschließen, in der eine gesicherte Umgebung für ihre Replikation vorherrscht. Zellen sind bis heute die Grundstruktur aller Lebewesen.

Gene codieren Proteine. Aus der Struktur des einzelnen Gens ergibt sich in der Umwelt einer Zelle, dass sich über eine Abfolge an einzelner Schritte Moleküle zu einem vorherbestimmten Muster anordnen, eben dem codierten Protein. Das ist zwar keine Replikation, aber es ist ein Schritt auf dem Weg dahin. Das Protein als Struktur oder Muster trägt wiederum bestimmte „Informationen“. Auch diese führen dazu, dass bestimmte chemische oder elektrische Vorgänge ausgelöst werden. Am Ende dieser Kette von Informationsübertragungen steht dann wieder das Ursprungsmolekül – die DNS. Die Replikation der DNS kann über beliebig viele Zwischenstationen verlaufen, bleibt aber auf allen Stufen der Informationsübertragung das wesentliche Ziel. Noch später in der Entwicklung des Lebens schaffen Gene sich erst über den langen Umweg eines von ihnen gebildeten Körpers eine Kopie ihrer selbst: So wird das Huhn für das Ei zur Notwendigkeit, um eine Kopie des Eis hervorzubringen.

Alles Leben entsteht aus seiner DNS und wird als DNS weiter gegeben. Dawkins nennt alles, was dazwischen ist, ein „Vehikel“ zum Zwecke des Überdauerns unserer DNS, insbesondere den Körper eines Lebewesens. Die „Absicht“ der Gene sei, sich zu replizieren. Es gehe ihnen um das Anfertigen von Kopien nach dem eigenen Vorbild.

Wir können also bis hierher zusammenfassen: Leben lässt sich als ein Algorithmus beschreiben, der selbstorganisiert ein bestimmtes Informationsmuster repliziert. Die Gesamtheit aller Informationsübertragungen, die die Organismen auf der Erde benötigen, um sich schließlich selbst zu replizieren, diese Gesamtheit umfasst die gesamte Biosphäre, es ist das Buch des Lebens. Alle Zwischenstationen einer Replikation sind bedeutungstragende Informationen. Ihre Bedeutung liegt darin, für den Erhalt des Lebens zu sorgen und dafür, dass es sich immer und immer wieder erneuern kann. Läuft etwas aus dem Ruder, zum Beispiel, wenn der Organismus abstirbt, zerfällt der Körper in eine bedeutungslose molekulare Anordnung und wird bestenfalls zu Rohmaterial für eine neue Runde der Evolution.

Auf unserem Körper mag der Fluch Gottes lasten: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du ⟨dein⟩ Brot essen, bis du zurückkehrst zum Erdboden, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren!“ (1.Mose3.19, Elberfelder Bibel) Das DNS-Molekül aber trotzt dem göttlichen Fluch, es entzieht sich dem Kreislauf des Lebens aus Werden und Vergehen, es wiedersetzt sich dem Gesetz über die Entropie und gibt sein geordnetes Dasein von Generation zu Generation weiter.

Schach

Verdeutlichen wir uns einen Aspekt von „bedeutungstragenden Informationen“ noch einmal am Beispiel des Schachspiels. Es gibt eine endliche Anzahl an Feldern, Figuren und Regeln, die bestimmen, in welchem Zustand das Spiel ist und welche Züge als Nächstes möglich sind. Die Stellung des Königs auf dem Schachbrett hat, für sich allein genommen, keinerlei Bedeutung. Auch jede Bewegung des Königs auf dem Brett beinhaltet nicht mehr Information, als dass wir physikalisch Ort und Impuls bestimmen können. Bedeutung erhält die Position und die Bewegung des Königs auf dem Brett erst dadurch, dass die einzelnen Spielzüge die Regeln des Schachspiels widerspiegeln. Das ändert sich nicht von der Anfangsstellung bis zum Ende des Spiels – jeder Zug auf dem Schachbrett erlangt seine Bedeutung erst im Abgleich mit den Feldern und Figuren, also mit den aktuellen Umweltbedingungen und den Regeln.

Das Schachspiel kennt nur ein Ziel: Schachmatt. Würde sich der Turm wie der Läufer bewegen, Bauern plötzlich beliebig viele Felder vorwärts gehen können und das Spiel auch ohne König weiterlaufen, würde das gesamte Spiel seinen Sinn verlieren und wir würden solchen Zügen keinerlei Bedeutung mehr zumessen. Schachzüge erlangen ihre Bedeutung in Hinblick auf das Ziel des Spiels.

Ähnlich können wir das Spiel des Lebens interpretieren: Ziel des Spiels ist, solange im Spiel zu bleiben, bis man neue Spieler hervorgebracht hat. Informationen sind bedeutungsvoll, wenn sie dem Ziel dienen, die Reproduktion der Gene zu ermöglichen. Der Kern von „Bedeutung“ ist die „Replikation der Gene“. Ihn umgibt ein Mantel an Informationen, die in irgendeiner Art eine Relevanz für das Projekt „Replikation der Gene“ liefern. Auch wenn dieser Informationsraum beliebig anwachsen kann, er umfasst bei uns Menschen auch unsere gesamte Gedankenwelt, so ist das immer noch eine verschwindend kleine Teilmenge der Informationen, die das Universum beinhaltet.

Selbstbezug

Am Anfang des Lebens war zwar nicht das Wort, aber doch ein sehr einfacher selbstbezüglicher Ausdruck, geschrieben vielleicht als RNS-Molekül: „Kopiere diese Kopiervorschrift.“ Es basieren nicht nur unsere Gene, sondern auch unser gesamtes Denken auf Selbstbezüglichkeit, auf dem Abgleich mit vorhandenen Mustern oder Informationen. Schon der deutsche Kirchenrechtler, Philosoph und Kardinal Nikolaus von Cues stellt heraus: Es sei grundsätzlich unmöglich, voraussetzungslos zu denken. Vielmehr sei Erkenntnis jeweils auf etwas bezogen, das stillschweigend oder ausdrücklich schon als bekannt vorausgesetzt sei. Unser Gehirn hat dieses Problem z.B. auf der Stufe des Erkennens von Gegenständen. Sehen ist, wie der Ingenieur sagen würde, ein „schlecht gestelltes Problem“: Wir müssen bereits wissen, was wir sehen, um einen Gegenstand identifizieren zu können. Wir sehen eine Katze, weil wir wissen, wie eine Katze aussieht. Veranschaulichen können wir uns das am Beispiel von Vexierbildern: Einmal sehen wir zwei gegenüberliegende Gesichter, einmal eine Vase, je nachdem, ob wir dem Inneren oder dem Äußeren des Bildes Bedeutung zumessen. Bewusstsein entsteht vermutlich dadurch, dass sich das Gehirn selbst wahrnimmt, und damit ist unser „Ich“ ein weiteres Beispiel für Selbstbezüglichkeit.

Replikation und Umwelt

Lebewesen kommunizieren mit ihrer Umwelt. Äußere Reize wie Licht, Wärme, stoffwechselrelevante chemische Verbindungen oder Toxizität sind wichtige bedeutungstragende Umweltinformationen für das Überleben. Einer Vermutung nach entwickelt sich das Leben auf der Erde an vulkanischen unterseeischen sogenannten „Black Smokern“. Diese hydrothermalen Quellen bieten einen ganz eigenen Lebensraum mit einem extremen chemischen Milieu, hohen Druckverhältnissen und einem sehr hohen Temperaturgradienten. Gerade Letzteres stellt eine besondere Anforderung für die Organismen dar, die sich dort entwickelt haben. Zu nah an der heißen Quelle zu sein, bedeutet den Hitzetod; bei zu großem Abstand von der Quelle ändert sich das chemische Milieu so radikal, dass für die spezialisierten Organismen die Stoffwechselversorgung zusammenbricht. Die Organismen müssen sich also in einer ganz bestimmten Entfernung zur hydrothermalen Quelle aufhalten. Dazu benötigen sie chemische und temperaturempfindliche Rezeptoren. Bedeutungstragende Informationen sind in diesem Fall diejenigen physikalischen Umweltinformationen, die die Temperatur anzeigen, und solche, die z.B. den pH-Wert des Wassers signalisieren. Sie tragen Bedeutung, weil sie wesentlich zum Überleben beitragen, und das ist die Voraussetzung für eine mögliche Replikation des Lebewesens.

Replikation und Verhalten

Im Laufe der Evolution werden wichtige physikalische Parameter der Umwelt in den Genen abgelegt, z.B. dort, wo ein Fisch stromlinienförmig gestaltet ist, oder wo die Knochen eines Vogels stabil und leicht gebaut sind, dass der Vogel der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen kann.

Was aber einen Organismus außerdem auszeichnet, ist, dass er adäquat auf seine Umwelt reagieren kann. Verhaltenssteuerung ist auf der untersten Stufe rein chemisch zu verstehen. Gene steuern das Verhalten bestimmter Moleküle in ihrer Zelle, damit diese in vorgegebener Art und Weise z.B. ein Protein herstellen. Das Verhalten von bestimmten Substanzen kann auf einer komplexeren Stufe dazu führen, dass elektrochemische Reaktionen in Bewegungen umgesetzt werden, z.B., indem sich Muskelfasern zusammenziehen. Sensoren können elektrochemische Signale senden, sodass eine gerichtete Bewegung entsteht.

Eine notwendige Neuerwerbung bei der Entwicklung von Vielzellern – vermutlich im Kambrium geschehen, oder vielleicht auch etwas früher – werden Kommunikationsproteine in den Membranhüllen der Zellen, damit sich die einzelnen Zellen im Verbund organisieren können. Ein weiterer Schritt ist die Entwicklung von reinen Nervenzellen. Der Zusammenschluss solcher Zellen zu neuronalen Netzen macht die Verarbeitung von Umweltreizen effektiver und flexibler und revolutioniert die Verhaltenssteuerung.

Sobald ein Organismus eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen treffen kann, sollte er diese Optionen bewerten können. Alle Lebewesen interpretieren, antrainiert von der Evolution, Umweltreize in Hinsicht auf Daseinserhalt, Partnersuche und gegebenenfalls Brutpflege – sie geben diesen Informationen eine Bedeutung in Bezug auf diese Themen. Und all das dient dazu, das Ursprungsmuster, nämlich das Genom des Lebewesens, zu reproduzieren. Es ist eine Auswahl von Informationen aus unendlich vielen Möglichkeiten. Nur ganz bestimmte „bedeutungsvolle“ Informationen aus der Umwelt werden von einfachen Lebewesen, wie z.B. den Insekten mit ihren einfachen neuronalen Netzen, ausgewertet. In einem Fliegenhirn schicken zwei Nervenzellen in unterschiedlichen Bereichen des Sehfeldes ihre Informationen an eine weitere Nervenzelle. Kommt eines der beiden Signale früher oder später an, wird diese Verzögerung registriert und als Bewegung des betrachteten Objektes interpretiert (Takemura et al. 2013). Die Bewegung der Fliegenklatsche wird erkannt, die Fliege kann entkommen.

Über die Bedeutung von Informationen

Wir können aus dem unendlichen Ozean der Informationen bestimmte Informationen herausheben, denen wir eine Bedeutung zuordnen. Letztlich beantwortet das die Frage nach dem Sinn des Lebens, soweit er ergründbar ist. Für den Verhaltensphysiologen der Uni Bremen, Gerhart Roth, hat unser Gehirn unterschiedliche Hauptfunktionen: Die zwei grundlegenden sind die Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Systeme wie Herz und Kreislauf und die Steuerung der Bewegungen des Körpers. Dazu kommen die Wahrnehmung, die emotionale Bewertung und die eher unwillkürliche Verhaltenssteuerung. Dann übernimmt das Gehirn die kognitive Bewertung und die Kommunikation über Sprache und schließlich die Handlungsplanung und –steuerung. „Dies alles hat erst einmal den individuellen Zweck, dass wir am Leben bleiben, und den überindividuellen Zweck, dass wir in die Lage versetzt werden, uns fortzupflanzen, damit Menschen geboren werden, die dann dasselbe tun […]. Welche fantastischen Dinge die Menschen auch immer tun, sie sind alle direkt oder indirekt in diesen Kreislauf eingebettet.“ (Roth 2008, S. 53).

Bernard Shaw soll den Darwinismus mit seinem „blinden Zufall“ als erbarmungslosen Schnitter bezeichnet haben, der als alleiniger Urgrund alles wahllos dahinrafft, was nicht das Glück hat, „im allgemeinen Kampf um Sinnlosigkeit zu überleben.“ (Dawkins 2018, S. 180). Und in der Tat klingt es sehr biologistisch und gefühlskalt, in der Reproduktion den einzigen Sinn des Lebens zu sehen. Aber es ist unabweisbar, dass der Lebenszweck aller Organismen vor uns auf dieser Welt genau darin lag: Nachkommen in die Welt zu setzen, die wiederum Nachkommen haben. Die Augen vor dieser Tatsache zu verschließen, hieße nach Shaw, nicht nur sinnlos zu leben, sondern überdies auch dumm zu sterben.

Aber in Wirklichkeit ist dieser Lebenssinn auch für uns Menschen annehmbar, wenn wir uns daran erinnern, dass die Liebe zu einem anderen Menschen und zu unseren Kindern zum Wertvollsten gehört, was unser Dasein bestimmt. Und genau diese beiden Aspekte des Lebens sind unmittelbare Folgen des universellen Auftrags der Evolution: „Seiet fruchtbar und mehret euch!“ (1.Mose1.28, Elberfelder Bibel 1905). Es sind dies auch die ersten Worte, die Gott (der mosaischen Religionen) an die Menschen richtet. Gott gibt ihnen denselben Auftrag, wie ihn uns die Evolution vorgibt und so sollte dieser Aspekts auch für Juden, Christen und Moslems tragbar sein.

Und anders herum betrachtet wird es fast noch klarer: Ein Lebewesen (A), dass nicht alle seine Energien darauf richtet, Nachkommen zu haben, wird gegenüber einem Lebewesen (B), dass alle seine Ressourcen genau dafür einsetzt, aus Sicht der Evolution das Nachsehen haben und auf die Dauer wird sich die Vererbungslinie B und die darin codierten Verhaltensweisen durchsetzen.

Mit der hier im Folgenden zu entwickelnden Theorie der „SoftGene“ werden wir darüber hinaus sehen, dass es bei Menschen nicht nur auf die Vererbung seiner Gene ankommt, sondern auch auf seine Beiträge zur kulturellen Entwicklung. Der Mensch gibt nicht nur seine Gene, sondern auch seinen Beitrag zur Kultur weiter. Eine herausragende Tat kann einen Menschen ewigen Ruhm bescheren, eine wegweisende Erfindung ihn unsterblich machen. Aber damit ändert sich nichts Grundlegendes: Informationen haben ihre Bedeutung stets im Kontext der Evolution der menschlichen Gemeinschaft.

Kopierfehler

Eng verwoben mit dem „Sinn des Lebens“ ist natürlich auch die Frage: „Mensch, wer bist Du“? Darauf gibt es nun eine niederschmetternde Antwort! Bei einer sich oft wiederholten Replikation schleichen sich unweigerlich Fehler ein. Das DNS-Molekül wurde also nicht nur immer wie der erneuert, sondern auch immer wieder variiert. Die Reproduktion eines Musters, die Identität, ist nicht notwendig das Optimum, wenn nur eine begrenzte Anzahl von Kopien hergestellt werden können, die um Ressourcen aus der Umwelt konkurrieren. Manchmal haben ungenaue Kopien, die aber besser die Ressourcen nutzen, einen Vorteil und auf die Dauer werden wir verstärkt oder auch nur noch solche „verbesserten“ Kopien antreffen.

Ironischer Weise ist die Vielfalt des Lebens, wir Menschen eingeschlossen, zunächst also nichts anderes als eine Ansammlung von Kopierfehlern. Philosophisch betrachtet ist dies zweifellos eine weitere dramatische Kränkung des menschlichen Selbstbewusstseins nach der kosmologischen Kränkung durch Kepler, nicht im Mittelpunkt des Universums zu stehen, der biologischen Kränkung durch Darwin, nicht gottgeschaffen sondern Abkömmling affenähnlicher Tiere zu sein und der psychologischen Kränkung durch Freud, vom Unterbewusstsein dominiert zu werden, nun also hier die informationstechnologische Kränkung: Der Mensch ist eine Summe von Kopierfehlern. – Ein Trost: Immerhin wurden bei den Kopierfehlern diejenigen selektiert, die zur Optimierung der Replikation beitrugen.

Die Evolution hat allmählich durch kleine zufällige Veränderungen (Mutationen) und durch die Auswahl bestimmter Mutationen (Selektion), einen anwachsenden Pool von ganz spezifischen Anordnungen chemischer Moleküle geschaffen. Die in der DNS codierten Informationen besitzen einen besonderen Bedeutungsinhalt: Der Genpool der Erde beinhaltet das Buch des Lebens; es umfasst alle Informationen, die nötig sind, das Leben wieder und wieder zu replizieren. Dieser Informationspool ist notwendig, aber nicht hinreichend – denn Informationen werden bei komplexeren Organismen nicht nur über die DNS an die nächste Generationen weiter gegeben.

Bedeutung beurteilen

Weil alles, was ist, dem allmählichen Verfall ausgeliefert ist, also auch die Erbinformationen, muss die DNS und ihre damit vorhandene Funktionalität eines Organismus aktiv erhalten werden: es muss in erster Linie eine Auswahl (Selektion) gegen offensichtlich nachteilige Mutationen geben. Aber parallel dazu findet eine Selektion vorteilhafter Veränderungen statt. Mit der Selektion der günstigsten Mutationen stieg die DNS durch graduelle Veränderungen auf der Leiter der Komplexität immer weiter hinauf.

Und hier ist nun ein weiterer entscheidender Punkt: Eine Wahl nach bestimmten Kriterien, wie z.B. der Fitness, ist wertend. Eine Information ist in Bezug aufs Überleben und auf den reproduktiven Erfolg entweder nützlich, hinderlich oder irrelevant.

Damit ergibt sich für die „Bedeutung einer Information“ eine bessere Umschreibung: Bedeutung meint, einer Information eine Bewertung oder ein Urteil zuzumessen. Mit dem Darwinistischen Algorithmus der Variation und Selektion bekommen Informationen eine Bewertung: Etwas ist gut oder schlecht für einen bestimmten Zweck. Und so ist auch das menschliche Gehirn im Wesentlichen damit beschäftigt, die in diesem Sinne bedeutungsvollen Informationen aus der Umwelt herauszufiltern, diese zu verarbeiten, sie zu bewerten und in Handlungsoptionen umzusetzen. Die Evolution hat dabei schon vorsortiert, sie hat uns dafür nur ein beschränktes, notwendiges Arsenal an Sinnen mitgegeben. Unsere Welt besteht nur aus den Informationen, die wir aufnehmen und verarbeiten können. Die dahinter liegende „Realität“ entzieht sich unseren Sinnen „it from bit“. Wir können nur ein gewisses Spektrum an elektromagnetischen Wellen detektieren – das für uns „sichtbare“ Licht. Für infrarotes oder ultraviolettes Licht sind wir blind. Wir haben kein „Gehör“ für Radiowellen und keinen so feinen Geruchssinn wie Ratten oder Hunde.

Die Botschaften, die von diesen beschränkten Sinnen ans Gehirn weitergeleitet werden, werden zusätzlich unbewusst gefiltert und nur einige wichtige Informationen dringen in das Bewusstsein. Eine Bedeutung wird den Informationen letztlich auch durch die kognitive Verarbeitung gegeben.

Ein gutes Beispiel ist das „Sichern“. Menschen blicken in regelmäßigen Abständen auf, tasten ihre Umgebung wie abwesend ab, sie „sichern“ (Eibl-Eibesfeldt 1997, S. 166). Das menschliche Sehsystem wertet die einfallenden Bilder in Bezug auf Fressfeinde, Artgenossen oder verdächtige Bewegungen aus und registriert dabei jede auf das Subjekt gerichtete Aufmerksamkeit. Wir fühlen, dass uns jemand beobachtet, noch ehe wir wirklich bewusst bemerken, dass es wirklich so ist. Wenn das Unterbewusstsein eine Gefahr vermutet, veranlasst es uns, noch einmal in die Richtung der Bedrohung zu sehen, und erst dann wird das Bewusstsein zugeschaltet. Denn der auf uns gerichtete Blick kann für uns bedeutungsvoll sein, besonders, wenn die Augen zu einer Großkatze gehören. Das Zwitschern der Vögel ignorieren wir dagegen, wenn wir in einem Gespräch vertieft sind, unser Unterbewusstsein blendet diese Informationen als irrelevant aus. Umgangssprachlich drücken wir das aus, wenn wir von der platzenden Currywurst in China sprechen – Dinge, die uns nichts angehen, haben für uns auch keine Bedeutung. Maßgeblich für uns sind nur die Dinge, die für unser Leben und Überleben, sowie letztlich für das Gedeihen unserer Kinder wichtig sind.

Bewertung durch Gefühle

Ein Gedächtnis, in dem wir Erinnerungen sammeln, wäre überflüssig, wenn wir das Erlebte nicht dafür verwenden könnten, unsere zukünftigen Handlungen zu planen. Ob etwas gut oder schlecht für den Auftrag ist, den die Evolution zugewiesen hat, entscheiden Tier wie Mensch letztlich über Gefühle. Unser Gefühlshaushalt ist die Quintessenz unserer gesamten stammesgeschichtlichen Entwicklung.

Seit die Neurowissenschaften mittels neuer Methoden, Gehirn-Prozesse untersuchen kann, zeigen vergleichende Untersuchungen von tierischen und menschlichen Gehirnen, dass die Areale, in denen Gefühle verarbeitet werden, relativ „alte“ Strukturen sind, die wir mindestens mit allen übrigen Säugetierarten teilen. Und mehr: „Diese Hirn-Areale scheinen bei allen Säugetieren auch die gleichen Aufgaben zu erfüllen. Das heißt, die Teile des Gehirns, die beim Menschen in bedrohlichen (oder erfreulichen) Situationen aktiv sind, sind in entsprechenden Situationen auch bei anderen Säugetieren aktiv. […].Wir finden auch bei ihnen entsprechende Veränderungen des Verhaltens, der Handlungsbereitschaft, der (Neuro-)Physiologie und der Kognition.“ (Kästner 2020).

Unsere Gefühle spiegeln die Erfolge und Misserfolge aller Generationen vor uns als Werturteile wieder. Mit diesen Gefühlen bewerten wir unsere individuellen Erfahrungen. Wir speichern nicht nur, was wir erlebt haben, sondern auch, wie wir es erlebt haben. Erfahrungen werden beurteilt nach erfolgreich, vorteilhaft oder lustvoll, oder aber nach erfolglos, nachteilig oder unangenehm-schmerzhaft. Das Ergebnis der Beurteilung wird im emotionalen Erfahrungsgedächtnis gespeichert und dient als Grundlage unserer zukünftigen Entscheidungen. Wenn wir in einem Restaurant gespeist haben, erinnern wir uns später nicht nur daran, dass wir dort gewesen sind, sondern auch, wie gut es uns geschmeckt hat. War es lecker, werden wir versuchen, dort wieder zu essen, war es ein Flop, sieht uns das Restaurant vermutlich nie wieder. Nur die empfundenen Gefühle erlauben uns überhaupt, Erinnerungen nutzbringend zu verarbeiten. Insgesamt gilt: Die Zuschreibung von Bedeutung ist in der menschlichen Kultur nicht beliebig, sondern wird uns über unsere Gefühle vermittelt und ist an die Nützlichkeit im Sinne der Evolution gebunden. Gefühle können wir nicht lernen und wir teilen sie mehr oder weniger mit allen anderen Menschen und die meisten wahrscheinlich auch mit unseren nahen Verwandten im Tierreich.

Lust und Leid

Mit einem bisschen Nachdenken erschließt sich die volle Tragweite der hier vorgestellten Idee: Wir benötigen nur ein Muster und eine dazu passende Umwelt. Die Selbstorganisation der Materie übernimmt den Rest, angetrieben von den vier fundamentalen physikalischen Wechselwirkungen: Der starken und der schwachen Wechselwirkung, der elektromagnetischen Wechselwirkung und der Gravitation.

Unser Gefühlshaushalt ist die Quintessenz unserer gesamten stammesgeschichtlichen Entwicklung. Insbesondere dienen wir alle denselben beiden Herren Lust und Leid. Bedeutung schreiben wir einer Information zu, wenn sie  in irgendeiner Weise fitnessrelevant ist. Bedeutung meint die positive oder negative Bewertungen, die vor allem über Gefühle vermittelt werden. Diese bedeutungstragenden Informationen sind entweder genetisch fixiert, werden von den Eltern oder der Gemeinschaft vermittelt oder individuell durch Erfahrungen erlernt. Lust und Leid sind die Tools, über die unsere Handlungen gesteuert werden. Sie beziehen sich auf das Individuum.

 

Gut und Böse

Ein einzelner Schimpanse, so soll es ein Primatenforscher einmal ausgedrückt haben, ist gar kein Schimpanse. Dies gilt für Menschen in noch weit größerem Maße: Wirklich Mensch sind wir Menschen erst in der Gemeinschaft anderer Menschen. Ein trauriges Beispiel dafür ist der Fall des Kaspar Hauser. Kaspar Hauser tauchte als „rätselhafter Findling“ am 26. Mai 1828 in Nürnberg als etwa 16-jähriger, geistig anscheinend zurückgebliebener und wenig redender Jugendlicher auf. Er war, nach eigenen Angaben, solange er denken könne, bei Wasser und Brot immer ganz allein in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden (wikipedia 06). Auch wenn seine Geschichte so wohl nicht stimmte, wurde diese tragische Figur namensgebend für das „Kaspar-Hauser-Syndrom“. Es bezeichnet die negativen körperlichen und geistigen Folgen einer sozialen Isolation bzw. entzogenen Liebe in Verbindung mit Misshandlungen, mangelnder Pflege oder Vernachlässigung (Stangl, 2023).

Ein Mensch kann ohne menschliche Gemeinschaft nicht heranwachsen und nur schwerlich allein überleben. Denn im Laufe der Menschwerdung wurden andere Menschen zum notwendigen und dominierenden Merkmal der menschlichen Umwelt. Der Körper des Menschen hat sich z.B. durch den aufrechten Gang, den opponierbaren Daumen oder die genetisch fixierte Laktosetoleranz an kulturell bedingte Umweltbedingungen angepasst. Mit der von Menschen dominierten Umwelt muss auch der menschliche Geist erhebliche Veränderungen erfahren, die zwar weniger offensichtlich, aber ebenso tiefgreifend sind. Auf diese Anpassung an die menschliche Umwelt, die sich ebenso wie die physiognomischen Merkmale genetisch im Erbgut des Menschen wiederfinden, werde ich später zurückkommen.

Neben Lust und Leid für den individuellen Kompass der Handlungssteuerung benötigt ein Mensch für den Umgang mit anderen Menschen vergleichbare Kriterien der Bewertung. Ehe der Mensch Mensch wurde, muss er daher von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen essen (1.Mose2.17, Elberfelder Bibel 1905). Dafür wird er zwar von Gott aus dem Paradies geworfen, aber auf diesen Kategorien „Gut“ und „Böse“ fußen unsere Bewertungen nach moralischen Standards. Ohne die Entwicklung der Moral, ohne die Erkenntnis, was in einer Gemeinschaft „gut“ oder „böse“ ist, wäre der Mensch nicht Mensch geworden. Und nur in einer Gemeinschaft ist es überhaupt möglich, komplexere Kulturbausteine zu entwickeln.

Gene und Meme als Informationsträger

Wir kennen nun die Axiome, die uns widerspruchsfrei und logisch zu unserer menschlichen Existenz führen: Das feinsinnige Design der physikalischen Kräfte befähigt eine bestimmte Anordnung von Atomen, in einer geeigneten Umwelt eine Kopie ihrer selbst herzustellen. Aufgrund des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, dass alles zu größter Unordnung strebt, (wenn man nicht Energie zuführt), ergeben sich bei den Kopiervorgängen immer wieder Fehler. Diese Fehler führen in seltenen Fällen dazu, dass die Kopiervorgänge nicht scheitern, sondern zu Verbesserungen führen. Über die Jahrmillionen entstehen so zunächst einfache Lebewesen wie Bakterien, später dann Tiere und Pflanzen und schließlich auch der Mensch. Über schier unendlich viele Kopiervorgänge hinweg ist so alles mit allem verwandt, jeder von uns kann seine Vorfahren bis auf LUCA (Last Universal Common/Cellular Ancestor) zurückführen. Anders herum haben wir nur Vorfahren, denen es gelang, Nachfahren in die Welt zu setzen – es ist diese Eigenschaft, den Stab im Staffellauf des Lebens erfolgreich an die nächste Generation weiter gegeben zu haben, die das Leben auf dieser Erde kennzeichnet. Zentral für die Staffelübergabe sind zunächst einmal die Gene.

Gene sind Informationsspeicher und auch die DNS der Kultur besteht aus Informationsträgern: Aus menschlichen Erinnerungen, Schrift, elektronischen Speichermedien usw. Die menschliche Kultur baut auf dem gewaltigen Pool der Unterweisungen auf, die von unseren Vorfahren zusammengetragen und durch Lehre vermittelt werden, auf Tontafeln eingeritzt und in Büchern niedergeschrieben sind und heute über das Internet weltweit verbreitet werden. Dieser Wissensschatz wird von uns stetig weiter vergrößert. – Nähern wir uns nun endgültig diesen Kulturbausteinen als zweiten Gleis der Evolution.

Dawkins egoistische Gene und Meme

Richard Dawkins schlug als einer der Ersten eine Theorie der Entwicklung unserer Kultur in Anlehnung an die biologische Vererbungslehre vor. Seine Kulturbausteine nannte er, in phonetischer Anlehnung an den Begriff „Gen“, „Mem“. Im Spiegel dieser Hypothese werde ich im Folgenden eine verbesserte Theorie vorschlagen, wobei ich den Begriff „Mem“ zur Unterscheidung in „SoftGen“ umbenennen werde. Ich verwende den Begriff im Sinne einer kulturellen Evolution, die auf die Entwicklung von Kulturbausteinen ähnlich wie auf Gene wirkt.

Dawkins, sicherlich einer der einflussreichsten Biologen unserer Zeit, postuliert in seinem 1976 erschienenen Werk „Das egoistische Gen“ die Selektionseinheit, nach der selektiert werde, sei nicht das Lebewesen oder die ganze Art, sie sei wesentlich elementarer, auf der Ebene der Gene zu suchen. Auf der Ebene der Gene treten immer wieder kleine Abweichungen, die sogenannten Mutationen auf. Außerdem mischt der sexuelle Akt die elterlichen Gene. Diese Mutationen sind einer Selektion unterworfen, es werden nachteilige Gene entfernt und nützliche bevorzugt. Erst später im Buch und eher nebenbei führt er schließlich als Analogie zu den Genen seine Theorie über die Meme ein. Daher hier zunächst einiges über die egoistischen Gene nach Dawkins:

Dawkins verweist darauf, dass der grundlegende Antrieb der Gene „Egoismus“ sei. Menschen und alle anderen Lebewesen würden das Schicksal teilen, durch Gene geschaffene, von ihnen gesteuerte Vehikel zu sein. Gewissermaßen als Fruchtkörper der Gene kämpften sie einen Stellvertreterkrieg des Überlebens, der in Wirklichkeit nur dem Überleben der Gene diene, die skrupellos ihre egoistischen Ziele verfolgen. Der Organismus sterbe, die Gene, die auf seiner Keimbahn reisen, überlebten – bei geschlechtlicher Vermehrung immerhin zu 50 Prozent eines beteiligten Lebewesens. Evolution sei die Evolution der Gene.

Dawkins bereichert durch diese Ansicht die Diskussion über die Evolution enorm, weil durch Kopierfehler oder durch äußere Einflüsse, wie z.B. radioaktive Strahlung, eine Veränderung in der DNS stattfindet, eine Mutation also einzelne Allele ändert. Ist diese Mutation vorteilhaft, kann sich die Veränderung an dieser Stelle im Genom in einer Population ausbreiten.

Allerdings ist das Problem nicht ganz so einfach. Schon auf der Ebene der Gene ist die Sache kompliziert genug: Es können einzelne Basen an bestimmten Positionen ausgetauscht werden, ein ganzer Block an Basen kann wegfallen, Sequenzen können verdoppelt oder in ihrer Reihenfolge umgekehrt werden, Sequenzen können verschoben oder neue Sequenzen können eingefügt werden. Zum Beispiel können Viren Teile ihres eigenen Genoms in das Genom des Wirtes einschleusen und dort dauerhaft verankern. Die amerikanische Biologin Lynn Margulis erhält 1999 die „National Medal of Science“ für den Nachweis, dass Bakterien in ihrer Entwicklung sogar ganze Zellorgane übernommen haben, die von ursprünglich frei lebenden anderen Bakterien stammen. Vor Jahrmillionen sind sie von anderen Bakterien verschluckt, aber nicht verdaut, sondern eingebaut worden. Und schließlich, beim Thema „Sex“ wird den Ansichten Dawkins von z.B. Veiko Krauß vehement widersprochen: Für ihn lässt sich die Funktion der Sexualität „nur verstehen, wenn sie im Rahmen einer Population von Lebewesen betrachtet wird und nicht etwa als eine für ein einzelnes Individuum nützliche Funktion.“ (Krauß 2021, S. 210). Da Sexualität das Zusammenwirken von genetisch verschiedenen Individuen voraussetzt, ist eine erfolgreiche geschlechtliche Fortpflanzung, zumal, wenn beide Beteiligte den Nachwuchs zu gleichen Anteilen erzeugen, „im wesentlichen Kooperation d.h. erfolgreiches Gruppenverhalten“, und nicht etwa das Resultat eines egoistischen Gens (Krauß 2021, S. 211). Dazu kommt, dass bei Menschen die Sexualität eine zusätzliche Funktion erhalten hat – sie dient der Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenlebens. Auch das hat wenig mit dem Egoismus von Genen zu tun.

Man kann es schließlich auch ganz entspannt sehen: Wie ich dargelegt habe, besteht das Leben eines Organismus aus einer beliebig langen Kette von aufeinander folgenden Schritten, die kausal miteinander verknüpft sind und am Anfang und am Ende steht jeweils (im Idealfall) dasselbe DNS-Moleküle. Je länger diese Kette ist, die zwischen der Replikation der DNS liegt, umso mehr kann schief gehen. Die Selektion kann an jedem dieser Zwischenschritte ansetzen und das Unternehmen „Replikation“ zum Scheitern bringen. Und weil das so ist, kann die Selektion nicht ausschließlich auf die Gene allein beschränkt sein – sie kann z.B. auf Verhaltensweisen einwirken, die über Lehrerfahrungen weitergegeben werden – z.B., wie man einen Faustkeil herstellt.

Aber zurück zu Dawkins. Er behauptet, das einzige Ziel unserer Gene hieße, möglichst lange im Spiel des Lebens zu verbleiben. Die Biologie unterscheidet zwischen dem Genotyp eines Lebewesens und seinem Phänotyp. Der Genotyp umfasst seine gesamten genetischen Informationen. Dem gegenüber steht die Summe der körperlichen und physiologischen Merkmale und Verhaltensattribute des Individuums. Sie wird als Phänotyp bezeichnet, der je nach Organismus zu unterschiedlichen Anteilen entweder vom Genotyp oder auch von Umwelteinflüssen entschieden wird. Phänotypische Merkmale können bei Tieren ihre Größe, die Stärke von Gliedmaßen, die Ausbildung von Fangzähnen oder Fellmuster und -farbe sein. Das Gen für blondes Haar ist dem Genotyp zugehörig, die blonden Haare kennzeichnen dann den Phänotyp.

Indem die genetischen Grundlagen (der Genotyp) den Körper (den Phänotyp, oder wie Dawkins es auch nennt, das Vehikel) dazu veranlassen, zu überleben, zu essen, Sex zu haben und Kinder groß zu ziehen, förderten die Gene ihren eigenen Erhalt. Die Pläne, die die Gene verfolgen würden, unterschieden sich von dem, was wir als Menschen beabsichtigen und wünschen würden. Den Genen gehe es um ihre Verbreitung, wir Menschen würden uns mit Gesundheit, hohem Auskommen und Liebe beschäftigen. Der Mensch verfolge die Strategie, sich Vergnügen durch Sex zu verschaffen, unsere Sorgen kreisten um Gesundheit und um unser Einkommen. Die Gene würden dieses Vergnügen und unsere Sorgen ausnützen, um sich in die nächste Generation hinüber zu retten. Der Mensch handele nach seinem biologisch vorgegebenen Drang zur Verwirklichung eigener Bedürfnisse, und zwar stets so, dass er nach dem größten persönlichen Glück strebe. Aber, was Glück ist, definieren unsere Gene. Und diese Ideen der „egoistischen Gene“ überträgt Dawkins nun auf die Kultur.

Theorie der Meme

Wohl keine Theorie der Vergangenheit hat eine vergleichbare Karriere hingelegt, wie die „Theorie der Meme“. Dawkins führt den Begriff und seine Bedeutung 1976 in seinem schon erwähnten Buch „Das egoistische Gen“ mit den Worten ein: „Ich meine, dass auf diesem unserem Planeten kürzlich eine neue Art von Replikator aufgetreten ist. Zwar ist er noch jung, treibt noch unbeholfen in seiner Ursuppe herum, aber er ruft bereits evolutionären Wandel hervor, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die das gute alte Gen in den Schatten stellt.“ (Dawkins, 2001, S. 308). Ein Replikator ist in der theoretischen Biologie eine replizierbare Einheit. Insbesondere ist damit ein Gen gemeint.

Dawkins greift nach eigenem Bekunden auf die 1975 geäußerten Thesen des amerikanischen Anthropologen F.T. Cloak über die Existenz von „Corpuscles of Culture“, von Kulturkörperchen auf neuronaler Ebene als Grundlage der kulturellen Evolution zurück. Er findet dann analog zum „Gen“ den Namen „Mem“. Dieses Kunstwort wird 1988 in die offizielle Liste von Wörtern aufgenommen, die für die zukünftige Auflage der „Oxford English Dictionaries“ in Betracht gezogen wird (Dawkins, 2001, S. 514). Heute können wir im Oxford English Dictionary die folgende Definition für ein Mem lesen: „Ein Element einer Kultur, das offenbar auf nicht genetischem Weg, insbesondere durch Imitation, weitergegeben wird.“ Dawkins nennt als Meme eine Reihe unzusammenhängender Begriffe: „Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen.“

Für Dawkins ist die „kulturelle Überlieferung“ der genetischen Vererbung insofern ähnlich, „als sie im wesentlichen konservativ ist, aber dennoch eine Form von Evolution hervorrufen kann.“ (Dawkins 2001, S. 304).

Nur hatte Dawkins seine Theorie ein bisschen als Monster auf die Welt gebracht, mit dem ein Wissenschaftler eigentlich keinen Umgang pflegen will. Denn gleich outet Dawkins die Meme als Schurken, die man sich irgendwie als Gegenspieler des „Menschseins“ vorstellen muss, wenn er schreibt: „Wenn jemand ein fruchtbares Mem in meinen Geist einpflanzt, so setzt er mir im wahrsten Sinne des Wortes einen Parasiten ins Gehirn und macht es auf genau die gleiche Weise zu einem Vehikel für die Verbreitung des Mem, wie ein Virus dies mit dem genetischen Mechanismus einer Wirtszelle tut.” (Dawkins 2001, S. 309).

Dass eine solche Theorie auf Widerstand stößt, ist nachvollziehbar. Niemand möchte mit Parasiten im Gehirn rumlaufen, niemand eine Petrischalen zur Vermehrung von Memen sein. Aber, natürlich sind diese Vorbehalte noch keine wissenschaftlichen Argumente. Und zumindest in Bezug auf unerwünschte Ideen ist es nicht ganz abwegig und auch nicht neu, über „Parasiten im Gehirn“ zu reden, wenn man in dem Buch „Die geheime Inquisition“ von Peter Godman über eine abweichende Meinung in der Katholischen Kirche im 16ten Jahrhundert liest: „Verbreitet wurde dieses den Verstand infizierende „Krebsgeschwür“ über das hoch ansteckende Medium des gedruckten Buches.“ (Godman 2001, S. 23).

Die Fortpflanzung der Meme geschieht durch einen Prozess, „den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.” (Dawkins 2001, S. 309). Der Biologe führt dann anhand des Beispiels „Idee Gott“ aus: „Wir wissen nicht, wie sie im Mempool entstanden ist. Wahrscheinlich wurde sie viele Male durch voneinander unabhängige „Mutationen“ geboren.“ (Dawkins 2001, S. 310). Damit hat er dann auch den für die Evolutionstheorie maßgeblichen Begriff der „Mutation“ eingefügt.

In einem späteren Werk unterscheidet Dawkins Meme und ihre phänotypischen Auswirkungen: Er geht davon aus, dass Meme als elektrochemische Signaturen im „Prinzip unter einem Mikroskop“ im Gehirn nachweisbar sein sollten (Dawkins 2018, S. 115). Ihre Auswirkungen (Vehikel, Phänotyp) drücken sich dann als Wort, Musik, Mimik und Gestik, Kleidermoden aus, oder auch schon im Tierreich im Öffnen von Milchflaschen durch Meisen in England oder im Waschen von Süßkartoffeln bei japanischen Makaken. Er unterscheidet hier also zwischen den chemischen Signaturen im Gehirn und ihrem Ausdruck als materielle kulturelle Güter im Sinne eines Phänotyps der Meme.

Imitation

Ein Mechanismus zur Verbreitung der Meme ist nach Dawkins die Imitation im weitesten Sinne. Und Susan Blackmore formuliert in ihrem Buch „Die Macht der Meme“ dazu: „Die These dieses Buches ist, dass es die Fähigkeit zur Imitation ist, die uns von den Tieren unterscheidet. Nachahmung oder Imitation ist eine Gabe, die uns Menschen angeboren ist.“ (Blackmore, 2000, S. 27). Nach Blackmore ist Imitation im Tierreich äußerst selten. Spaßiger Weise führt sie als Beispiele für das Unvermögen von Tieren zu imitieren an, dass wir Menschen weder Hunden noch Katzen „Männchen machen“ beibringen können, indem wir es vormachen (Blackmore, 2000, S. 27). Wohl wahr! Allerdings scheitern Menschen ihrerseits daran, sich in die Lüfte zu erheben, wenn es Ihnen eine Möwe vormacht. Von Artgenossen bestimmte Dinge über Imitation zu lernen, scheint dagegen recht verbreitet im Tierreich – das prinzipielle Vermögen zu imitieren ist nicht nur dem Menschen qua Geburt gegeben. Selbst die sogenannten Spiegelneuronen wurden nicht zuerst im menschlichen Gehirn, sondern bei Makaken entdeckt (de Waal 2015 (1), S. 186). Diese „Monkey see, Monkey do“ – Neuronen befähigen uns Menschen dazu, Vorgänge, die wir wahrnehmen, mitzuempfinden: Zum Beispiel aktivieren wir durch Beobachtungen neuronale Repräsentationen von Bewegungsabläufen in ähnlicher Weise, als würden wir diese Bewegungen selbst ausführen.

Lernen durch Beobachten ist an komplexe neuronale Verarbeitung gekoppelt. Einfache Bewegungen sind noch relativ einfach zu imitieren: Bereits nach wenigen Tagen ist ein Säugling im Stande, die Zunge herauszustrecken, wenn ihm das die Mutter vormacht (Foppa 2011, S. 47). Aber auch das ist bereits ein vielschichtiger Vorgang: Zunächst muss der Säugling die Bewegung beobachten und analysieren und danach muss er überlegen, wie er diese Bewegung selbst ausführen kann. Imitation ist spätestens dann auf ein leistungsfähiges Gehirn angewiesen, wenn es um Absichten geht, die wir mit einer Handlung verfolgen. Denn wir müssen, um durch Imitation zu lernen, die Intention des handelnden Individuums zusätzlich mit erfassen. Ein Beispiel: Ein Mann wischt nach der Mahlzeit seines Kleinkindes den Tisch ab, der bei der Fütterungsprozedur ziemlich schmutzig geworden ist. Seine Intention dabei ist, den Tisch zu säubern. Das Kind beobachtet den Wischvorgang genau, und will dann den Vater nachahmen. Der Mann übergibt dem Kind den Schwamm. Das Kind fängt begeistert an, den Tisch zu putzen, aber statt den Tisch zu säubern, verteilt das Kind die Essensreste gleichmäßig über die Tischplatte. Es ist von seinem Tun vollständig begeistert, aber nicht in der Lage, die Intention des Vaters, „den Tisch sauber zu wischen“, hinreichend zu erfassen. Es ahmt lediglich die Wischbewegungen nach.

Blackmore hat insofern recht, als Tiere in der Regel nicht genügend Gehirnkapazität haben, um kompliziertere Intentionen zu erfassen. Aber das ist vielleicht auch gar nicht nötig, wenn Gene und Meme geschickt verzahnt sind – „Imitation im weitesten Sinne“ ist da bereits sehr hilfreich.

Dawkins Meme

Dawkins führt Meme als etwas gänzlich Neues, Anderes ein und schreibt sie vor allem den Menschen zu. Er nimmt das später implizit zurück, wenn er das Waschen von Süßkartoffeln bei japanischen Makaken als Ausdruck eines Affen-Mems wertet: Im Jahr 1953 wäscht das Rotgesichtsmakakenweibchen Imo auf der japanischen Insel Koshima zum ersten Mal eine sandverschmutze Süßkartoffel, bevor sie sie verzehrt. Dieses Verhalten breitet sich unter den Makaken der Horde aus und nach rund 10 Jahren ist das Kartoffelwaschen ein typisches Verhaltensmerkmal des gesamten Trupps geworden (Sachser 2018, S. 156 f.). Und Dawkins besteht darauf, dass es keinen Zusammenhang zwischen Memen und Genen gibt: „Ein Mem hat seine eigenen Fortpflanzungsmöglichkeiten und seine eigenen phänotypischen Auswirkungen, und es gibt keinen Grund, warum Erfolg für ein Mem irgendeine Verbindung mit genetischem Erfolg haben sollte.“ (Dawkins 2018, S. 116).

Dawkins irrt. Erst im Zusammenspiel erschließen Gene und Meme bei höher entwickelten Lebewesen Handlungsoptionen, die dem Überleben und der Fortpflanzung des Individuums nützen. Bestimmtes Verhalten kann genetisch codiert werden, z. B. die Nachfolgeprägung. Küken schlüpfen aus dem Ei und folgen dem, der sich in nächster Nähe befindet und sich bewegt. Das ist in aller Regel die Mutter oder Konrad Lorenz. Küken ist es nicht angeboren, sich vor Raubvögeln zu verstecken. Es gibt wahrscheinlich keinen Weg, die Konturen der Räuber, die am Himmel kreisen, als Gene zu codieren. Stattdessen wählte die Evolution einen weit effizienteren Weg, was Aufwand und Wirkung anlangt: Die Küken schlüpfen aus dem Ei und flüchten vor jedem Schatten, den sie am Himmel sehen (angeboren, genetisch fixiert). Das ist eine sinnvolle, aber energieaufwändige Strategie. Aber die Küken haben auch die Fähigkeit des Lernens mit aus dem Ei gebracht: Sie können sich schnell merken, bei welchen Schatten (Mem) am Himmel die anderen Vögel flüchten und bei welchen nicht. Sie erlernen also nicht die Angst vor Raubvögeln, sondern verlernen durch Gewöhnung die Angst vor ungefährlichen Flugobjekten. Dieser einfache Lernvorgang justiert eine angeborene Reaktion neu oder präzisier. Küken lernen, indem sie sich das Verhalten von Artgenossen ansehen und dieses Verhalten imitieren. Forscher nennen dieses Vorgehen „soziales Referenzieren“. Das Mem „ungefährlicher Schatten“ wird dabei über Lernvorgänge von Henne zu Küken weitergegeben, während die Disposition, vor Schatten zu flüchten, genetisch vererbt wird.

Dies erklärt auch, warum Vogelscheuchen nur kurze Zeit funktionieren (Sachser 2018, S. 145) – Wagemutigere Krähen testen die Reaktionen der Vogelscheuchen aus und wagen sich immer näher heran. Sie lernen, dass ihnen von diesen Schreckgestalten kein Ärger droht und ignorieren die Vogelscheuche fortan. Die furchtsameren Krähen übernehmen dann dieses „mutige“ Verhalten und ignorieren die Vogelscheuche schließlich auch.

Bei Küken greifen genetische Disposition und in der Kultur der Artgenossen gespeicherte Schattenbilder ineinander. Ähnliches finden wir bei Primaten. Bei Laboraffen, die noch nie vorher eine Schlange gesehen haben, kann Susan Mineka vom Karolinska Institut in Stockholm zeigen, dass die Versuchstiere keine angeborene Angst vor diesen Reptilien haben. Werden den Affen aber Filme von Artgenossen gezeigt, die deutliche Angstreaktionen beim Anblick von Schlangen zeigen, entwickeln die Labortiere schnell selbst Angst, wenn sie einer Schlange ansichtig werden. Sie haben eine genetisch bedingte Veranlagung, diese Angst schnell zu lernen, schneller als Angst vor Blumen oder Kaninchen, wenn die Versuchstiere solche Dinge ebenfalls vorher nie gesehen haben. Auch hier greifen kulturelle Errungenschaften ineinander, wie z.B. die Botschaft: „Gefahr: lauf weg! – das ist eine Schlange!“ und die Veranlagung, diese schnell zu erlernen. Erdmännchen, deren Nahrung zu ca. 5 Prozent aus Skorpionen besteht, entfernen den giftigen Stachel bei diesen Beutetieren und lassen dann den Nachwuchs an diesen Skorpionen üben (Hrdy 2010, S. 254). Das erspart dem Nachkommen manch bittere oder sogar tödliche Erfahrungen.  Dieses notwendige Lernen der artspezifischen Kultur macht es so schwierig, in menschlicher Obhut aufgewachsene Tiere in ihren angestammten Revieren auszuwildern. Denn diesen Tieren fehlen die Kenntnisse der tradierten überlebensnotwendigen Verhaltensweisen, die im natürlichen Habitat von den Elterntieren oder sonstigen Artgenossen übernommen werden. Noch dramatischer ist das Problem, wenn in Zukunft versucht werden wird, eine ausgestorbene Tierart, wie z.B. den Dodo, zurückzuholen. Dieser etwa einen Meter großer flugunfähiger Vogel lebt, eher er ca. 1690 ausstirbt, ausschließlich auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean. Heute kann niemand einem Dodo mehr zeigen, was es heißt, ein Dodo zu sein (Kenneally 2023). Niemand kann einem Dodo-Küken das spezifische Sozialverhalten eines Dodos beibringen.

Junge Rhesusaffen lernen, Schlangen zu meiden, wenn sie erlebt haben, wie ihre Eltern ängstlich auf eine Schlange reagieren. Kraken attackieren etwas, was sie andere Kraken haben attackieren sehen. Vögel und Kaninchen lernen, sich nicht vor Zügen zu fürchten, wenn sie Artgenossen über Bahngleise folgen, die sich nicht vor Zügen fürchten (Blackmore, 2000, S. 94). Das Verhalten, „Schlangen zu meiden“, „bestimmte Dinge zu attackieren“, „sich nicht mehr vor gewissen Dingen fürchten“, ist genetisch vordefiniert: „Sei ängstlich, wenn deine Artgenossen ängstlich sind“, „sei gegen Objekte aggressiv, die von Artgenossen angegriffen werden“ und „verliere deine Furcht, wenn Artgenossen keine Furcht zeigen“. Das sind einfache Verhaltensweisen.

Als Meme werden dann von den Artgenossen diejenigen kulturelle Aspekte übernommen, die mit diesem Verhalten gekoppelt sind: „Schlangen – flüchten“, „bestimmte Meeresbewohner – kämpfen“, oder „Züge – ignorieren“.

Bei Menschen finden wir ähnliche Voreinstellungen und kulturelle Ausformungen: Befragt man Menschen, wovor sie am meisten Angst haben, stehen ganz oben in der Liste: Schlangen, Spinnen, Höhen und enge Räume, dazu auch Angst vor Spritzen, vor dem Fliegen in Flugzeugen oder vor dem Zahnarzt, vor Elektrosmog oder Handy-Strahlung (Rosling 2019, S. 131). Die Anlage dafür bringen wir mit, denn sie betreffen die generelle Furcht vor körperlichem Schaden. Aber wovor wir uns im Einzelnen fürchten, vermittelt uns unsere Kultur. Wir lernen sie durch unsere kulturelle Umwelt, die entsprechenden Meme hören und sehen wir in den Nachrichten: Flugzeugabstürze, Körperverletzungen und Kontamination durch Strahlung oder unsichtbare Substanzen. Dass es sich dabei um Meme handelt, die unsere Ängste triggern, sehen wir daran, dass weder von Hochspannungsmasten noch von Handys eine reale Gefahr drohen, niemand einen tatsächlichen Schaden durch „Elektrosmog“ erlebt haben kann. Jedenfalls kam die „WHO zu dem Schluss, dass die „derzeitige Kenntnislage die Existenz irgendwelcher gesundheitlichen Folgen einer Exposition durch schwache elektromagnetische Felder nicht bestätigt.“ (wikipedia 04).

Vorbehalte

Ein Mangel der Mem-Theorie von Dawkins ist die starke Reduzierung der Evolution auf Egoismus bzw. auf Konkurrenz. Denn besser angepasst bedeutet nicht zwangsläufig, andere aktiv aus dem Rennen zu werfen. Wenn eine Antilope durch zufällige Mutation einen längeren Hals entwickeln würde und damit an höher hängende Blätter und Früchte käme, könnte sie möglicher Weise mehr Kinder in die Welt setzen, fräße aber keinem Artgenossen konkurrierend etwas weg. Wenn sie, wegen des erweiterten Nahrungsangebots, pro Generation ein Kind mehr erfolgreich aufziehen würde und ein gewisser Prozentsatz von Individuen pro Generation von Raubtieren gemeuchelt würde, ergibt sich mathematisch, dass es auf die Dauer nur noch Antilopen mit langem Hals geben würde. Kein Langhals hätte dabei in irgendeiner Weise rivalisiert. Es ist wichtig zu verstehen: Es geht nicht um einen Überlebenskampf, sondern völlig unaufgeregt nur darum, ob eine bestimmte Form der DNS es fertig bringt, solange auf der Erde zu verweilen, bis es ihr gelingt, eine möglichst genaue Kopie ihrer Selbst hervorzubringen. Eine weitergehende Absicht oder ein zusätzliches Motiv braucht es dabei nicht.

Vor allem aber gibt es zwischen Genen und Memen in einem Organismus nicht etwa Konkurrenz, sondern weitestgehend Kooperation. Ganz ähnlich, wie wir es aus der Informatik von Hardware und Software kennen, greifen Gene und Meme ineinander und ergänzen sich. Bei Menschen können wir davon ausgehen, dass Meme vor allem auch die Fähigkeit verstärken, zwischenmenschlich zu kooperieren.

Sicherlich hat die gefühlsmäßige Unannehmbarkeit der „Egoisten-Mem-Theorie“ dazu beigetragen, dass sich diese an sich wegweisende Theorie wenig verbreitete. Ein ernstes Problem der Theorie ist ihre Fokussierung auf ein zusammenhangloses Nebeneinander von Genen und Memen: „Kleidermode und Ernährungsgewohnheiten, Zeremonien, Brauchtum, Kunst und Architektur, Ingenieurwesen und Technologie – sie alle entwickeln sich im Verlauf der geschichtlichen Zeit auf eine Art und Weise, die wie gewaltig beschleunigte genetische Evolution aussieht, in Wirklichkeit jedoch nichts mit genetischer Evolution zu tun hat.“ (Dawkins 2001, S. 306). Für Dawkins ist ein Mem wie „Gott“ von großer psychologische Anziehungskraft ohne biologische Begründung. Und er schreibt: „Was wir bisher nicht in Betracht gezogen haben, ist, dass ein kulturelles Merkmal sich einfach deshalb so entwickelt haben mag, wie es sich entwickelt hat, weil es für sich selbst von Nutzen ist.“ (Dawkins 2001, S. 320). Wie wir noch sehen werden, irrt Dawkins gerade auch hier: Unabhängig davon, ob es einen Gott gibt oder nicht – evolutionär betrachtet spielen Gottheiten bedeutende Rollen.

Die Kulturwissenschaften ignorierten die neue Theorie weitgehend, auch weil es ab den 60er Jahren in Reaktion auf das Desaster, das aus den Rassentheorien der NS-Zeit erwachsen war, Mode wurde, jegliche biologistischen Denkansätze zu verteufeln. Auch heute wird die Mem-Theorie wenigstens als zu kurz gesprungen angesehen: Dawkins verfehle mit seiner Theorie „letztlich die Besonderheit des Gegenstands der Sozialwissenschaften, der eben ein anderer ist als derjenige der Naturwissenschaften. Der Gegenstand der Naturwissenschaften ist letztlich beliebig modellierbar, während der Gegenstand der Sozialwissenschaften in sich schon sozial, normativ und affektuell strukturiert ist.“ (Bosch 2010, S. 125). Trotz allem etablierte sich der Begriff „Mem“ und fand seine Verbreitung in den Debatten über die Evolutionstheorie, des menschlichen Bewusstseins, Religionen, Mythen und „Viren des Geistes“. Respektable Wissenschaftler wie Daniel Dennett, Susan Blackmore, Richard Brodie oder Edward O. Wilson integrierten den Begriff des Mems in ihre Denkmodelle. Seit 1997 existierte eine Internetseite: „Journal of Memetics: Evolutionary Models of Information Transmission“. Google listete bereits 2020 unter dem Schlagwort „Meme“ knapp 323 Mio. Treffer auf, der Begriff „Mempool“ wurde immerhin noch mit knapp 3,16 Mio. Treffern gelistet (Suche vom: 17.05.2020). Dass sich dieser Begriff so hartnäckig hält, liegt daran, dass die Idee intuitiv einleuchtet.

Denken wir diese Idee also noch einmal von Grund auf neu, ohne die Erbsünde einzuweben, die Dawkins seinem Geschöpf aufgebürdet hat. Zur besseren Unterscheidung werde ich sie hier „SoftGen-Theorie“ nennen. Zugegeben, der Begriff SoftGene ist phonetisch nicht ganz so elegant, zeigt aber noch deutlicher, wohin die Reise geht. Die DNS ist ein genialer chemischer Speicher, um Informationen zu speichern und einfache Verhaltensweisen zu steuern. Für viele Problemlösungen aber sind Neuronen in einem Gehirn besser geeignet, weil sie unsere Verhaltenssteuerung viel flexibler machen. Und ein Gehirn ist ohne seine Inhalte nutzlos, es wäre wie ein ausgeschalteter Computer.

SoftGene – eine neue Mem-Theorie

Denken ohne Schubladen ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Aber bestimmte Einordnungen und Grenzziehungen verstellen den Blick fürs Ganze, und das trifft sicherlich auf die erbittert umkämpfte Antwort auf die Frage zu, was den Menschen stärker prägt, seine Natur oder seine Kultur (nature vs nurture). Dass es nicht nur die Kultur sein kann, sondern uns auch unsere Gene prägen, sehen wir daran: Rund 94 Prozent der deutschen Häftlinge sind Männer. Das spricht stark dafür, dass Delinquenz genetisch vorgeprägt ist. Andererseits – wenn die Delinquenz in den männlichen Genen verankert wäre, dann müssten wir erwarten, dass mehr als ca. 0,12 Prozent der deutschen Männer im Knast landen (Statistisches Bundesamt 2020).

Es ist vielleicht lediglich eine anthropozentrische Verzerrung, die uns glauben lässt, dass es eine kulturelle Errungenschaft ist, wenn ein Baby „Mama“ sagen kann. Sicherlich hat die Evolution das Wort „Mama“ nicht in unsere Gene eingeschrieben. Aber tatsächlich ist der Beitrag der Kultur zu dieser Leistung eher gering: Das fängt an mit der schieren Existenz: Erst muss ein Kind geboren werden und sich nach seinem genetischen Plan entwickeln, ehe es überhaupt daran gehen kann, Laute zu artikulieren. So betrachtet erscheint der Beitrag der Kultur eher gering – auf der einen Seite der gewaltige Beitrag der Gene, damit ein Kind existiert – auf der anderen Seite die durch die menschliche Kultur beeinflusste Strukturierung einiger Neuronen, die das Kind dann dazu befähigt „Mama“ zu sagen. Oder mit den Worten des Neurobiologen Donald Hebb formuliert: Die Frage, ob unser Verhalten eher von unserer Natur oder eher von unserer Kultur beeinflusst wird, ist so sinnvoll wie die Frage, ob die Fläche eines Rechteckes eher durch seine Länge oder eher durch seine Breite bedingt ist (Sapolsky 2017, S. 327).

Was uns prägt, ist nicht Kultur oder Natur sondern Kultur und Natur zusammen! Gene und Kultur bilden eine untrennbare Einheit. Und so, wie wir Menschen von der Umwelt beeinflusst wurden und werden, üben wir unsererseits Einfluss auf unsere Umwelt aus.

Hard- und Software

Die hier vorgestellte Theorie verbindet die Erkenntnisse aus der biologische Sicht auf den Menschen mit seinem kulturell bedingten Verhaltensrepertoire, so wie es das lex parsimoniae von einer guten Wissenschaft fordert. Der Begriff, der dabei alles zusammenhält, ist Information. Wir können zunächst – wie in den Computerwissenschaften – zwischen der Hardware und der Software unterscheiden. Bei Lebewesen höherer Komplexität reicht Hardware zur Verhaltenssteuerung allein nicht aus. Aber auch das Umgekehrte, eine reine Softwaresteuerung, die manche Geisteswissenschaftler dem Menschen unterstellen, wenn sie seinen Geist frei und unabhängig von seinem Körper arbeiten sehen, wäre kein lauffähiges Produkt.

In unserem Kopf sitzt ein bemerkenswert leistungsfähiger Computer (Kahneman 2011, S. 96). Computersysteme funktionieren erst richtig, wenn Software und Hardware reibungslos zusammenarbeiten. Wir können Letzterem sofort zustimmen, wenn wir an Depressionen oder Schizophrenie denken, wenn also ein Gehirn nicht „richtig“ arbeitet und die Daseinsbewältigung dramatisch leidet.

Während die Hardware ganz überwiegend von den Genen hervorgebracht wird, wird die Software zum großen Teilen über Lernvorgänge erworben. Lernen wird als die Fähigkeit betrachtet, das Verhalten aufgrund individueller Erfahrungen zu verändern und sich so der Umwelt anzupassen, und spielt sogar schon bei Fadenwürmern und Pantoffeltierchen eine Rolle (Sachser 2018, S. 143). Und auch die kleine schwarzbauchige Fruchtfliege ist nicht unwiderruflich durch die Gene in ihrem Verhalten programmiert.

Neben der Anpassung an die Umwelt gibt es noch ein anderes Verhalten, dass zu einem ähnlichen Nutzen für einen Organismus führen kann: Ein Lebewesen kann seinen Umwelt manipulieren, es kann seine Umwelt an die eigenen Bedürfnisse anpassen. Insbesondere diese, von Organismen hervorgerufene veränderte Umwelt – Nestbau, Vogelgesang, Werkzeugherstellung usw. – können wir als artspezifische Kultur ansehen.

In unserem Gehirn arbeiten nicht nur solche Softwaretools, die uns befähigen, zu atmen, Herz und Kreislauf zu überwachen, auf zwei Beinen zu gehen oder eine Kampf- oder Fluchtreaktionen auszulösen. Das sind Fähigkeiten, von denen wir selbst nicht wissen, wie wir sie bewerkstelligen. Vielmehr beinhalten Sie auch die Voraussetzungen für die menschliche Kultur und Kultur ist ihre logische Folge: Unsere Gene sind zusammen mit unseren Kulturbausteinen untrennbar mit unserem menschlichen Dasein verbunden.

Intelligenz ist die unvermeidliche Antwort auf alle rasch sich ändernden Umweltbedingungen und so entwickelten sich die kulturellen Bestandteile unseres Denkens, angetrieben durch die Selektion, in Koevolution mit dem neuronalen Netzwerk des Gehirns in Richtung einer immer größeren Komplexität. Dabei erzwang die Aneignung von Kultur ihrerseits die Anpassung des menschlichen Körpers, also unseres Genpools.

Da unser Gehirn modular aufgebaut ist, ist auch unser Denken in „Unterprogrammen“ organisiert und damit sind auch die verschiedenen Inhalte in unserem Gehirn in einzelne Bestandteile gegliedert, die mehr oder weniger eng zusammenhängen. Zu denken wäre hier auch an eine ähnliche Hierarchisierung, wie wir sie von Computersystemen kennen: Es gibt eine Art „Betriebssystem“, dass die Denkvorgänge intern organisiert, Basisprogramme, die z.B. die Homöostase der Körperfunktionen wie Blutdruck, Körperwärme und Sauerstoffgehalt im Blut regeln, Tools, die Handlungsoptionen durchspielen, Datenbanken für die verschiedensten Aufgaben, wie z.B. ein Gedächtnis für Erfahrungen. Und natürlich gehören dazu auch Datenbanken für Faktenwissen wie Sitten und Gebräuche und Kleidermoden, für essbare und giftige Pflanzen und wie man Töpfe macht, für Jagdmethoden und wie man Netze, oder Pfeil und Bogen herstellt und wie man Häuser baut. Unser „Internet-Browser“ schließlich ist unsere Sprache, die uns befähigt, in einer Art WorldWideWeb mit im Prinzip jedem Menschen auf der Welt zu kommunizieren, Erfahrungen auszutauschen und Handelsbeziehungen aufzubauen. Das Computer-Internet hat diese Fähigkeiten nicht erfunden, sondern nur funktional erweitert und insgesamt verstärkt.

Objektorientiert

Eine Definition, wonach ein Mem als Informationseinheit anzusehen ist, die im Gehirn wohnt, scheint stark unterkomplex (Blackmore 2000, S. 69). Eine genauere Definition könnte sich an der „Objektorientierten Programmierung“ orientieren. Wir können in der Informatik ein Objekt „Rechteck“ derart programmieren: „Zeichen ein Viereck auf den Bildschirm!“ Dann müssen wir, immer wenn wir ein Rechteck auf den Bildschirm zeichnen wollen, diesem Objekt „Rechteck“ nur einige Informationen übergeben wie:„Startpunkt“ (z.B. fange von oben links beim Pixel 50 nach rechts und 30 nach unten, also beim Pixel (50/30) auf dem Bildschirm an) und „Größe“ (z.B. Länge horizontal = 100 Pixel; vertikal 10 Pixel), und können so ein beliebigen Rechteck auf dem Bildschirm erzeugen. So ähnlich könnten wir uns vielleicht ein kleines SoftGen vorstellen: Es wäre die neuronale Entsprechung für ein erlerntes Tool, dass uns befähigt, ein beliebiges Rechteck auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Komplexere SoftGene sind vielleicht Handlungsabläufe wie „das Schälen von Kartoffeln“ oder Elemente des Wissens wie z.B. eine „Theorie über die Entstehung des Weltalls“.

Einige Thesen zu den SoftGenen

Die hier vorgestellte SoftGen-Theorie setzt zunächst voraus, dass unser „Denken“ im Wesentlichen eine Software darstellt, die auf der Hardware „Gehirn“ läuft. Sie postuliert, dass der Mensch, ähnlich wie die Systeme eines Roboters funktioniert: Er besteht aus einer Hardware, die durch die Gene hervorgebracht wird und einer Software – die auf dem Neuronalen Netzwerk des Gehirns aufsetzt. Seit der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz wird so ein Szenario immer plausibler.

Die Grundlagen unseres Denkens basieren auf genetisch vererbten Anlagen. Dabei spielen genetisch ererbte Dispositionen wie Gefühle eine entscheidende Rolle. Diese steuern eine weite Bandbreite unserer Verhaltensweisen. Diese Grundlagen werden durch kulturell vererbten „SoftGenen“ modifiziert und erweitert. Der evolutionäre Vorteil von SoftGenen ist, dass sie eine schnelle Antwort auf sich rasch wandelnde Umweltbedingungen ermöglichen. Sie sind also insbesondere dort von Bedeutung, wo eine genetische Anpassung viel zu lange dauern würde oder gar nicht möglich wäre. Das Zauberwort heißt hier: „Anpassung durch Lernvorgänge“. Das Verhalten durch Dazulernen anzupassen, ist eine mächtige Waffe im Überlebenskampf.

Noch flexibler wird Verhalten, wenn neben der Anpassung an die Umwelt auch die Umwelt an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden kann, also Kultur im eigentlichen Sinne erzeugt wird. Diese Fähigkeit ermöglicht es dem Menschen, sich jede beliebige Umwelt als Habitat zu erschließen.  

Die „SoftGen-Theorie“ wird die Mem-Theorie von Dawkins an mindestens den folgenden Punkten widersprechen: Dawkins ist der Meinung, dass Meme erst vor kurzem auf der Weltenbühne auftauchen, dass sie keinerlei Zusammenhang mit den Genen aufweisen würden, dass sie egoistisch wie seine Gene seien und dass sich die Selektion in der Biologie nur auf die Gene beziehe.

Nach der hier vorgestellten Theorie existieren SoftGene schon sehr lange im Tierreich, und sie bilden eine untrennbare Einheit mit den Genen. SoftGene leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, ihre Besitzer zur Kooperation zu befähigen. Diese Kooperationsfähigkeit erst erlaubt das Hervorbringen von komplexeren Kulturbausteinen. Die Selektionseinheit für SoftGene ist eher in der Gruppenselektion zu sehen.

Analog zum Genotyp könnten wir von einem SoftGen-Typ sprechen – gewissermaßen als individuelle kulturelle Identität eines Menschen.

Zum ersten Punkt hier noch einmal: Zu den ursprünglichsten SoftGenen zählen die von den Artgenossen durch soziales Referenzieren vermittelten Verhaltensweisen: „Versteck dich, wenn du den Schatten eines Habichts siehst“, „zieh dich zurück, wenn du eine Schlange siehst“, „vor Schienen musst Du keine Angst haben“. Es sind die „optimierten Reiserouten von Zugvögeln in den Süden“ oder die „Jagdtechniken bei den Raubkatzen“.

Bei den „Brains“ der Tiere, wie den Orcas, den Elefanten oder den Primaten, kommen ein Haufen soziokultureller Verhaltensweisen dazu. Bei Menschen umfassen die SoftGene auch diese kulturellen Güter: Soziale Verhaltensweisen, Arbeitstechniken, Bücher und Internet oder wie man windsurft.

Wenn es sich bei den SoftGenen um etwas handelt, das der Evolution unterliegt, sollten wir die folgenden drei Evolutionsmechanismen wiederfinden: Es müssen verschiedene konkurrierende Ideen (bzw. SoftGene) möglich sein (Variation), wobei einige sich als hilfreicher als andere herausstellen (Selektion) und sie müssen sich möglichst unverändert verbreiten können (Replikation). Offensichtlich gibt es unterschiedliche Kulturräume, die miteinander in Konkurrenz treten, man denke nur an die Rivalität zwischen den USA und China (Variation). Das Modell einer freien Marktwirtschaft in einer Demokratie hat sich als erfolgreicher gegenüber einer durchgeplanten Wirtschaft in einer „Proletarischen Diktatur“ durchgesetzt (Selektion), wie der Zusammenbruch des Ostblocks zeigt. Jegliche Form von (Schul-) Unterricht zielt darauf ab, SoftGene zu verbreiten (Replikation). Diese drei Merkmale bilden den Evolutionsalgorithmus.

Man muss das natürlich nicht so groß denken: Die Variation kann z.B. auch beim Aufpellen von Bananen auftreten: Menschen schälen Bananen meistens von dem Ende aus, an der die Banane an der Pflanze befestigt ist. Das funktioniert recht schlecht, wenn die Schale nicht reißen will. Schimpansen öffnen Bananen am anderen Ende – sie quetschen das Ende der Banane, dort wo die Blüte saß, ein bisschen und dort öffnet sich dann ohne Anstrengung die Bananenschale einen Spalt. Die Banane lässt sich dann mühelos aufschälen. Möglicher Weise haben die Affen an dieser Stelle die höher entwickelte Kulturtechnik.

SoftGene unterliegen der Evolution in der Art, wie Karl Popper den wissenschaftlichen Wandel charakterisiert: Jedes SoftGen kann lediglich falsifiziert werden und verschwindet dann aus dem SoftGen-Pool und wird durch ein neues, meistens besseres verdrängt.

SoftGene sind vor allem das dauerhaft gespeicherte Wissen einer Kultur und weniger das Wissen einer Einzelperson. Die Selektion der SoftGene setzt daher weniger beim einzelnen Individuum, sondern bei der Gruppe an. Bei Menschen verstärken SoftGene vor allem die Fähigkeit, untereinander zu kooperieren – denn Kultur ist ein Phänomen kooperativer Gestaltung der Umwelt. Eigentlich liegt das auf der Hand: Die meisten Bausteine unserer Kultur machen überhaupt nur in einer Gemeinschaft Sinn. Sprache ist hier das klassische Beispiel. Sprechen, Bücher Schreiben und Lesen und was alles sonst noch an diesen Kulturtechniken dranhängt, macht nur Sinn in einer sozialen Gruppe. Kooperation ist so elementar für die Entwicklung elaborierterer Kultur, dass wir Regeln des Zusammenarbeitens in unseren Genen als Voreinstellung wiederfinden: Es sind dieses unsere Gefühle für moralisches Verhalten. Wenn wir also einigen Anfängen von Kooperation und Kultur nachspüren wollen, finden wir auch erste grundlegende SoftGene. Dafür werden wir uns später die Entwicklung der Moral etwas näher ansehen. Gut organisierte Gemeinschaften haben offensichtlich einen Überlebensvorteil, denn soziale Einheiten wie Sippen, Horden, Stämme, Fürstentümer oder Nationen wetteifern miteinander. Es gilt: Gruppenmitglieder müssen innerhalb der In-Group kooperieren und müssen möglichst gut organisiert gegenüber einer Out-Group konkurrieren können.

Eine Konsequenz aus der SoftGen-Theorie erscheint besonders folgenreich: Bei Genen sind die allermeisten Mutationen schädlich oder neutral. Daher ist es in aller Regel gut, wenn die Gene unverändert tradiert werden. Das muss prinzipiell auch in der Evolution der SoftGene so sein. Kulturgüter müssen über viele Generationen hinweg ohne große Veränderungen „vererbt“ werden können. Ich werde diesen zentralen Aspekt unter dem Begriff Konformismus weiter erörtern. Dabei trotzt der Widerstand gegen Veränderungen in der Kultur im Zweifelsfall jeden rationalen Argumenten. Diese Folgerungen, dass SoftGene weitgehend immun gegen Veränderungen sein müssen, erklärt erstaunlich viele Aspekte des sozialen Verhaltens.

Neue Ideen sind vor allem Mutationen alter Ideen und nicht immer besser. Allerdings spielt hier nun auch die Ratio des Menschen eine Rolle. Intelligenz ist die Fähigkeit, das Verhältnis von schädlichen und nützlichen Mutationen von Ideen zugunsten der nützlichen zu verschieben. Menschlicher Weitblick kann die Dinge rascher voran bringen als eine blind wirkende Darwinistische Evolution, die nur Versuch und Irrtum kennt. Mit der Ratio hat der „blinde Uhrmacher“ mindestens einäugiges Sehen gelernt.

Für den Einzelnen von uns bedeutet die Theorie der SoftGene, dass nicht nur unsere Gene durch unsere Kinder erhalten bleiben. Auch das, was wir zur Kultur beigetragen, überlebt möglicher Weise dauerhaft als SoftGen unseren individuellen Tod. Wie wichtig uns dieser Aspekt ist, sehen wir daran, dass nicht nur Helden nach „ewigem“ Ruhm strebten, sondern Menschen auch als Wohltäter in die Geschichte eingehen möchten.

Wie im Kapitel „Emulation“ dargelegt, gibt es eine Äquivalenz zwischen Genen und SoftGenen. Daraus lässt sich eine weitere Hypothese ableiten: SoftGene können, auch wenn sie i.d.R. mit den Genen kooperieren,  gelegentlich in Konkurrenz zu den Genen treten. Dieses deutet sich an, wenn wir das Zölibat in der Katholischen Kirche betrachten. Zugunsten der Verbreitung und Erhaltung des SoftGen-Komplexes „Katholische Kirche“ verzichten ihre Priester mehr oder weniger auf ihren genetischen Erfolg. Sie widmen ihr Leben ausschließlich dem Überleben der SoftGene, die sie vertreten. Ähnliches gilt auch für Islamisten, die durch Selbstmordattentate ihre extrem radikale Auslegung ihrer Religion verteidigen wollen.

Gruppenselektion

Schon Darwin war sich dessen bewusst, dass sich gute Ideen zum Wohle einer Gemeinschaft ausbreiten und dass das die Fitness einer Gemeinschaft stärken würde: Wenn in einem Stamme jemand, der scharfsinniger sei, als die Übrigen, eine neue Waffe oder ein anderes Mittel zum Angriff oder zur Verteidigung erfände, so würden die Anderen des Stammes ihn aus eigenem Interesse nachahmen und daraus ergäbe sich ein Vorteil für den ganzen Stamm. Wäre die Erfindung von großer Bedeutung, würde sie den Stamm befähigen, sich zu verbreiten und in der Konkurrenz zu anderen Stämmen die Oberhand zu gewinnen (Darwin 1871; 2010, S. 84).

Die Ebene, auf der Kulturbausteinen hervorgebracht und selektiert werden, ist am ehesten in der Gruppenselektion zu suchen. Es gibt seit Darwin einen lang andauernden Streit unter Biologen, ob es das Phänomen einer Gruppenselektion, wie im Zitat oben angedeutet, überhaupt gibt, oder ob nicht stets die Individualselektion wirksam sei. Dieser Streit soll hier nicht entschieden werden. Aber es ist nicht abzustreiten, dass es vielfältige Kooperationen im Tierreich gibt. Diese Kooperationen sind offensichtlich stabil in Bezug auf die Evolution: Sie verschwinden nicht wieder, weil sich über kurz oder lang der Egoismus einzelner Mitglieder einer Gruppe durchsetzt. Diese Kooperationsfähigkeit aber ist eine in der Gruppe erworbene Verhaltensweise. Und da Kooperation sich i.d.R. auch für das Individuum auszahlt, ist hier Individual- und Gruppenselektion kein Widerspruch. Und schließlich ist es nicht abzustreiten, dass Kultur häufig eine Gruppe voraussetzt.

Jedes Mitglied einer Gesellschaft verfügt daher sowohl über Gene, die sich über die Individualselektion entwickelten, sowie auch über Gene, die durch die Gruppenselektion erzwungen wurden (Multi-Level-Selektion). Denn neben den individuellen Fähigkeiten gibt es Verhaltensweisen, die nur innerhalb einer Gemeinschaft sinnvoll sind, Fähigkeiten, die nur in einer Gemeinschaft gebaucht werden und daher nur dann auftauchen – z.B. bei der gemeinschaftlichen Jagd. Mammuts zu erlegen ist eine emergente Erscheinung einer Jagdgesellschaft, unerreichbar für ein einzelnes Individuum. Die mentalen Fähigkeiten dafür – Taktik, Kooperationswille und das Gefühl von Fairness beim Teilen der Jagdbeute sind dabei günstige Verhaltensweisen. Und diese können nicht individuell, sondern nur innerhalb einer Gemeinschaft erworben werden.

Ähnliches gilt auch schon für alle Raubtiere, die in Gruppen jagen! Tierarten wie die Wölfe sind in Rudeln organisiert. Sie müssen einerseits innerhalb der eigenen Gruppe – zum Beispiel bei der Jagd – zusammenarbeiten und andererseits stehen sie als Gruppe in innerartlicher Konkurrenz zu anderen Rudeln, sie müssen ihr Revier verteidigen. Sowohl Canis lupus als auch H. sapiens sind kooperative Jäger. „Beide sind zu den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft fürsorglich, gegenüber Außenstehenden aber misstrauisch und nicht selten mörderisch brutal.“ (Becker 2012).

Ein Individuum muss vordergründig Ressourcen für die Gruppe erübrigen, die es nicht für seine eigenen Zwecke verwenden kann. Daraus ergibt sich ein „unausweichlicher Konflikt“ zwischen diesen beiden Arten der Selektion (Wilson 2013, S. 71). Neid z.B. ist das Gefühl, das die Evolution in uns angelegt hat, das in uns aufsteigt, wenn wir uns bei der Verteilung von Ressourcen in einer Gemeinschaft benachteiligt fühlen, wenn wir uns also als Individuum übervorteilt fühlen. In dem Widerstreit, der aus kollektiven und individuellen Vorteilwahrungen folgt, liegen wahrscheinlich die meisten innerkulturellen Konflikte begründet.

Ein Konflikt dieser Art ist der Diskurs über den Impfzwang, in dem stets das Verhältnis zwischen Bürger und Staat verhandelt wird. „Es geht darum, wer über den Körper entscheidet, der Einzelne oder das Kollektiv.“ (Wiegrefe 2020, S. 30). Um solche Konflikte zu lösen, entstanden eine Reihe von spezifischen SoftGenen, wie z.B. „moralische Regeln des Zusammenlebens“ oder Gesetzbücher. Und es gilt auch das „geistige Eigentum“, dass wir einem Individuum zugestehen und das eher auf die Individualselektion verweist.

In diesen Zielkonflikten muss ein Individuum auf eine möglichst flache Hierarchie bestehen, um nicht übervorteilt zu werden, und folgerichtig finden wir bei Jägern und Sammlern i.d.R. eine mehr oder weniger egalitäre Gemeinschaft. Heute wird dieses Bestreben nach Egalität im Kampf um die Demokratie sichtbar. Das Streben nach Freiheit (Selektion auf der Ebene des Individuums) ist nichts anderes, als das Streben nach möglichst wenig „gesellschaftlichem Zwang“. Insbesondere wendet sich dieses Gefühl gegen hierarchische Strukturen. Andererseits verlangt eine Horde in der Auseinandersetzung mit anderen Horden nach Schutz und klarer Führung. Führung aber verlangt Unterordnung. Auch hierfür haben wir ein Sensorium: Nicht eben wenige Menschen sind bereit, populistischen Führungsfiguren blind zu folgen.

Den Fokus bei den SoftGenen auf die Gruppenselektion zu legen, widerspricht durchaus nicht dem zentralem Theorem der Evolution, wie Dawkins es nennt: dass ein Tier immer im ureigenen Interesse seiner Gesamtfitness handelt (Dawkins 2018, S. 62). Denn die Gesamtfitness wird zum Schluss abgerechnet. Im Schwarm zu schwimmen mag für eine Sardine energieaufwändiger sein und die Futtersuche erschweren – verglichen damit, allein unterwegs zu sein. Aber der Schutz, den der Schwarm vor Fressfeinden bietet, überwiegt diese Nachteile. Der Vorteil der Gruppe für Menschen ist gegenüber dem unorganisierten Fischschwarm um Größenordnungen höher: Ein Mensch kann ohne die Gesellschaft anderer Menschen auf Dauer kaum überleben.

Die Kernfrage bezüglich der Gruppenselektion ist: Egoisten, die die Vorteile ausnutzen, die eine soziale Einheit bietet, die aber selbst nichts für die Gemeinschaft leisten, wären immer im Vorteil. Wie also kann kooperatives Verhalten und Altruismus entstehen, wenn es nur um das Individuum bzw. um seine Gene gehen würde? Aber tatsächlich ist das nur ein Widerspruch, so lange, wie eine Gruppe über keine Möglichkeiten verfügt, Egoisten in die Schranken zu weisen. Dass sich kooperatives Verhalten durchsetzen konnte, zeigen viele Beispiele. Ohne die Ortskenntnisse älterer Elefantendamen wäre das Überleben der gesamten Herde in episodisch auftretenden Dürrezeiten in Frage gestellt – ein guter Grund, das Gruppenleben zu fördern, anstatt allein durch die Gegend zu streifen und im Zweifelsfall vor Durst umzukommen. Gut funktionierende Gruppen von Tieren und Menschen werden also auf Dauer besser dastehen, fitter sein. Die Voraussetzungen für eine gut funktioniere Gemeinschaft sind sozialverträgliches Betragen und Hilfsbereitschaft. Es gilt: Ohne die Bereitschaft zur Kooperation und altruistischem Verhalten ihrer Mitglieder konnten keine sozialen Einheiten auf Dauer bestehen und ohne soziale Bande gäbe es keine höhere Kultur. Daher wird uns die Entstehung von kooperativem Verhalten später noch beschäftigen.

SoftGene und Kultur

Eine „Zielvariable“ der Selektion von SoftGenen ist weniger die optimale Anpassung an die Umwelt, wie es vielfach bei den Genen der Fall ist. Es geht auch nicht nur um die Erweiterung der individuellen Fähigkeiten, z.B. durch die Nutzung eines Werkzeuges. Im Wesentlichen geht es bei Kultur um die Anpassung der ökologischen Nischen zum Vorteil der Gruppe. Der allgegenwärtige Druck, die Nahrungsmittelproduktion zu intensivieren, die kollektive Arbeit zu organisieren und sich gegen andere Gemeinschaften wehren zu können, führt zu den Erfindungen des Pfluges, des Rades und der Anlage von Bewässerungssystemen, zur Entwicklung von Schrift und Buchhaltung, zur Kodifizierung des Rechts und nicht zuletzt zur Entwicklung ausgefeilter Werkzeuge der Kriegsführung. Die menschliche Kultur wird so mehr und mehr der Hauptbestandteil der menschlichen Umwelt. – „Zur Jahresmitte 2023 lebten weltweit geschätzt 4,6 der insgesamt etwas mehr als 8 Milliarden Menschen in Städten.“ (google; 07.10.2023). Aus Städten hat der Mensch einen Großteil der „natürlichen Umwelt“ heraus gedrängt. Inbegriffen bei der Umgestaltung der Umwelt zum eigenen Nutzen sind Kollateralschäden wie der Klimawandel.

Wie bei der Evolution der Gene ist die Entwicklung dabei kontingent. Kontingenz in der Evolution bedeutet, dass einmal eingetretene evolutionäre Entwicklungen Auswirkungen auf die weitere evolutionäre Entwicklung haben. Die Selektion wirkt dabei, wie bei den Genen, kumulativ: „Der Output jeder Selektionsrunde [dient] wieder als Input für die nächste.“ (Buskes 2008, S. 172). Erfindungen bauten i.d.R. auf vorangegangene Erfindungen auf. Das ist ein durchaus bedeutsam: Erst die technisch relativ einfache Verwendung fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung und für die Mobilität ermöglichte eine Zivilisation, die in der Lage war, Fotovoltaik und elektrisch angetriebene Autos zu entwickeln. Auf der technologischen Stufe holzbetriebener Dampfmaschinen wäre wahrscheinlich nicht einmal die Herstellung von Stahl in ausreichendem Umfang möglich gewesen. Die mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe einhergehende Klimaveränderung ist also in gewissem Maße der Preis für die Möglichkeit, auf regenerative Energieerzeuger umstellen zu können. Und möglicher Weise mussten erst die Voraussetzungen geschaffen werden, dass auf unserem Planeten 7 Milliarden Menschen leben konnten, ehe ein Steven Jobs daran denken konnte, ein Smartphone zu entwickeln.

Aspekte der SoftGen-Theorie

Bei Darwin wird eine Mutation in der Keimbahn der Elterngeneration, also eine in der Elternschaft erworbene genetische Veränderung, von da an an die Nachkommen weitergegeben. Dabei wird entweder schon bei dem Individuum, das in seinen Genen eine Mutation erfährt, eine Selektion wirksam, etwa, wenn die Mutation zur Unfruchtbarkeit führt. Oder aber, die Mutation wird in den Folgegenerationen durch die Selektion als positiv oder negativ oder neutral im Sinne der Fitness wirksam und bewertet. Positive Bewertungen führen zur Ausbreitung der betreffenden mutierten Gene im Genpool einer Art. Mutationen geschehen nach Darwin zufällig.

Darwin vs. Lamarck

Zu Darwins Zeiten gab es einen erbitterten Streit über die Art, wie Eigenschaften in die nächste Generation weiter gegeben werden, wobei es mindestens zwei konkurrierende Theorien dazu gab. Darwins Ideen standen neben denen des Jean Baptiste de Lamarck. Letzterer vermutete: Von Vater oder Mutter in ihrem Leben erworbene Verhaltensweisen und Fähigkeiten können direkt und dauerhaft an die nächsten Generationen weitergegeben werden und würden so die Gestalt einer neuen Art hervorbringen. Darwin würde bei der Entstehung einer Gattung wie die Giraffen annehmen, dass zufällige Mutationen für die Verlängerung des Halses verantwortlich wären. Lamarck hingegen vermutet: Eine Antilope versucht, an höher hängende Blätter zu kommen und diese Anstrengung bzw. Zielgerichtetheit führt zu einem etwas längeren Hals bei dieser Antilope. Über Generationen hinweg werden so die Hälse von den Nachkommen solcher Antilopen immer länger und länger und allmählich werden so aus einer Art von Antilopen mit der Vorliebe für hoch hängende Blätter: Giraffen.

Der lamarckistische Weg der Weitergabe von überlebensrelevanten Informationen von den Eltern auf die Kinder wäre um ein Vielfaches effizienter in Bezug auf die Anpassung an die Umwelt, weil schneller, als es die zufällige Mutation der Gene erlauben würde. Eigentlich kann es daher nicht überraschen, dass die Evolution früher oder später auch diesen Trick hervorgebracht hat: die Weitergabe von Verhaltensweisen über das Nachahmen der Eltern oder Artgenossen. Und wie wir z.B. bei der menschlichen Hand gesehen haben, führt dies dann irgendwann auch zu Genveränderungen, zur Evolution, wie sie Darwin beschrieb. Allerdings ist die Lamarckistische Evolution nur eine stabile evolutionäre Strategie, wenn die Veränderungen auch dauerhaft über viele Generationen weitergegeben werden können, also viele Generationen von Antilopen hintereinander an die höher hängenden Blätter möchten. Dafür musste es eine zusätzliche Idee geben. Lamarck schreibt daher allen Organismen einen Vervollkommnungstrieb zu, der die angesprochene Art von Antilopen dazu anhält, nach immer höher hängenden Blättern zu streben. Allgemein hätten nach Lamarck alle Organismen den Trieb, durch graduelle Veränderungen auf der Leiter der Komplexität immer weiter hinaufzuklettern.

Kulturbausteinen werden nicht mit der Zeugung, sondern in der lang andauernden Kindheit vermittelt und von einem Individuum auch noch später und fortwährend durch lebenslanges Lernen erworben. Anders als bei Genen breiten sich SoftGene nicht allmählich von Generation zu Generation aus, sondern werden über Lernvorgänge von Individuum zu Individuum vermittelt. Damit gehorcht der Algorithmus der Vererbung von Kultur weniger der Evolutionstheorie Darwins, als vielmehr den Überlegungen von Lamarck. Unzweifelhaft ist, dass spätestens in der menschlichen Technosphäre die Vererbung nach den lamarckistischen Regeln fortschreitet. So strebt z.B. die Automobilindustrie stetig nach höherer Komplexität und Vervollkommnung von Autos.

Phänotyp und Genotyp der Kultur

Bei einem Individuum können wir den Genotyp, also die Anlagen, die in den Genen codiert sind und seinen Phänotyp unterscheidet: „Unter dem Phänotyp versteht man jeden Ausdruck der Gene, nicht nur den äußerlichen, sondern auch das Funktionieren des Gehirns bis hin zur Persönlichkeit und Verhaltensweisen.“ (Christakis 2019, S. 213). Das können wir nun etwas genauer beschreiben: Zu dem Genotyp gesellt sich eine Art SoftGen-Typ und beides kann sich in Kultur ausdrücken.

Für Singvögel ist Musikalität überlebenswichtig. Ein Vogel, der falsch singt, bleibt allein. Der Gesang der Nachtigall gehört ebenso zum Phänotyp der Nachtigall wie ihr Gefieder. Männliche Zebrafinken (Taeniopygia guttata) entwickeln in ihrer Pubertät eigene Melodien, um ein Weibchen zu betören. Ihr Kulturgut, der Gesang, zusammen mit dem Körper ergeben erst die ganze, in ihrer Ausprägung einzigartige Art Vogel. Der Balztanz der Kraniche, Termitenhügel und Biberdämme sind genetisch bedingte phänotypische Merkmale von Kranichen, Termiten und Biber. Die Fitness einer Radnetzspinne hängt im buchstäblichen Sinne an einem seidenen Faden. Es ist die Spinnenseide zusammen mit der Form und der Statik des Spinnennetzes, die eine erfolgreiche Jagd auf Insekten ermöglicht, also womit, aber auch wie sie ihr Netz spinnt. Gesang, Tanz, Bauwerke und Jagdwerkzeuge sind also bei den entsprechenden Arten phänotypische Ausprägungen der Gene, aber zum Teil auch schon der SoftGene. So passen z.B. Zebrafinken ihren Gesang instinktiv an denjenigen von erwachsenen Artgenossen an (Bergamin 2017). Der Gesang wird also als SoftGen von den Eltern auf die Jungvögel tradiert.

Der Mensch ist der einzige Primat ohne Fell. Trotzdem ist er in der Regel nicht der „nackte Affe“. In Europa, während der Eiszeiten, hätte der Mensch ohne Kleidung und ohne ausgefeilte Gerätschaften für die Jagd auf große Landsäuger nicht überleben können. Zu seinem Phänotyp gehörte, zumindest damals und dort, Kleidung und Speer. Zum heutigen Menschen gehören noch weit mehr materielle und intellektuelle Güter, ohne die er nicht überleben könnte. So wäre ein Mensch, der im Urwald des Amazonas ausgesetzt wäre, kaum in der Lage, auch nur ein Monat dort ohne Hilfe von außen zu überstehen.

Vermittlung von SoftGenen über Erfahrungen

Wie theoretisch im Kapitel Emulation dargelegt, kann Verhalten genetisch fixiert oder auch erlernt sein, also als Hardware oder Software vorliegen. Meistens wirkt aber beides zusammen. Und damit treten neben die Gene gleichberechtigt die SoftGene. Dies ist der Fall, wenn, wie beschrieben, Küken von ihren Eltern lernen, wann sie sich tatsächlich in Sicherheit bringen müssen. Es reicht, die Lernfähigkeit genetisch zu codieren, und für das Abbild eines Habichts Neuronen zur Verfügung zu stellen, in die das Bild codiert werden kann. Das passende Verhalten dazu wird kulturell vererbt, indem das Küken sich an älteren Tieren orientiert. Dabei hilft die Anlage zum sozialen Referenzieren. Hunde schauen sich Jagdtechniken voneinander ab; Erdmännchen machen einander vor, wie man mit gefährlicher Beute umgehen muss und zum Teil wird dieses Wissen im Tierreich aktiv vermittelt: „Primaten und Elefanten sind geborene Lehrer.“ (Christakis 2019, S. 356).

Lernen aus Erfahrung ist gut, Lernen aus der Erfahrung Anderer ist oft noch besser. Unser Gefühl für Empathie, also die Gefühle Anderer als eigene mitzufühlen, befähigt uns nicht nur zur Barmherzigkeit, sondern vor allem dazu, gefahrlos zu lernen. Wir zucken zusammen, wenn jemand Anderes vor Schmerz brüllt und empfinden mindestens ein Unwohlsein. Auf diese Weise müssen wir nicht selbst jede unangenehme Erfahrungen sammeln, es reicht, wenn ein Anderer in unserer Gegenwart auf die heiße Herdplatte fasst: Aus dem Missgeschick Anderer zu lernen, klappt um so besser, je stärker wir des Mitleidens fähig sind.

Am besten aber ist Lernen aus den Erfahrungen der Vorfahren, weil hierbei angesammeltes und vielfach evaluiertes Wissen zur Verfügung steht. Wir geben eine Fülle von Informationen an unsere Kinder weiter, die wir selbst schon von unseren Vorfahren übernommen haben und ohne die sie kaum überlebt hätten. Jeder von uns lernt zuvorderst von seinen Eltern und Geschwistern. Später lesen wir vielleicht die Bibel oder gar den Knigge, um das richtige Verhalten in der Gesellschaft einzuüben. An Universitäten wird Wissen vermittelt, das uns befähigt, ein Auto, eine Kathedrale oder einen Luftballon zu fertigen oder wie man Geige spielt. Ein gutes Beispiel für SoftGene sind Patente, also klar umrissene Bausteine, die die Grundlage unserer technologischen Entwicklung darstellen. Heute erbt die nachfolgende Generation Bibliotheken voller Wissen über die Welt und Wikipedia, zusammengetragen von allen Generationen vor uns und ergänzt und erweitert von der gesamten heutigen Menschheit.

Sprache

Damit Erfahrungen von Artgenossen nicht ständig wieder verloren gehen, und vor allem, um sie auch der nächsten Generation zugänglich zu machen, sind höhere Formen der Kommunikation etabliert worden. Der Mensch hat die Vererbung von Erfahrungen wie kein anderes Lebewesen vor ihm kultiviert, und dafür war einer der bedeutendsten Kulturentwicklungen nötig: Sprache.

Bei der Sprachentwicklung haben wir, wie erläutert, einen ähnlichen Fall, wie bei den Werkzeugen und der Hand und gleichzeitig ein überzeugendes Beispiel dafür, wie eine Gruppe die Individualselektion lenkt: Eine verfeinerte Kommunikation ermöglicht eine äußerst effektive Übertragung von SoftGenen auf andere Individuen. Je bedeutender die SoftGene in der Entwicklung der Hominiden werden, desto notwendiger wird „Sprache“. Das ist leicht einzusehen: Gruppen von Hominiden, die eine Kultur der Waffentechnik entwickeln, wie feuergehärtete Lanzen und Steinbeile und diese zuverlässig tradieren können, haben einen erheblichen Vorteil gegenüber Hominidenhorden, die diese Fähigkeiten nicht besitzen.

Mit der Notwendigkeit, besser zu kommunizieren ist, wie berichtet, eine Veränderung des menschlichen Stimmapparates verbunden – „Sprache“ verlangt eine Anpassung der Gene. Um das Sprechen zu lernen, muss sich nicht nur die Anatomie des Kehlkopfes verändern, denn, was und wie wir lernen können, hängt eng mit unseren Gehirnstrukturen zusammen. Ein Kind benötigt ein ausgeklügeltes Sprachzentrum, das die Wörter, die Wortbedeutungen, die Regeln der Verknüpfung zu Satzgebilden und vieles andere aufnehmen und verarbeiten kann, was zusammen erst eine Sprache ermöglicht. Diese Gehirnstrukturen sind angeboren, genauso wie die Bereitschaft, sich Sprache anzueignen. In diesen Zusammenhang ist auch die Hypothese über die Universalgrammatik zu stellen, die vor allem von Noam Chomsky vertreten wird. Ihr zufolge würden „alle (menschlichen) Sprachen gemeinsamen grammatischen Prinzipien folgen und diese Prinzipien allen Menschen angeboren seien.“ (wikipedia 05). Aber, ob das Kind nun Deutsch oder Englisch lernt oder eine Gebärdensprache, ist von seiner Umwelt abhängig. Auch hier sehen wir noch einmal: Gene und SoftGene bilden eine untrennbare Einheit.

Schmackhaftes

Wie grundsätzlich unser Überleben von tradiertem Vorwissen über unsere Umwelt abhängt, zeigen uns u.a. unsere nahen Verwandten. Im Urwald wachsen Tausende von Pflanzenarten, aber nur wenige davon sind für die Ernährung eines Schimpansen geeignet. Schimpansen fressen darüber hinaus auch Insekten und gelegentlich Fleisch kleinerer Wirbeltiere. Jede Pflanze besitzt ihre eigene Zusammensetzung an Nährstoffen und verfügt über unterschiedliche Energiemengen, ja schon die einzelnen Teile einer einzigen Pflanze sind höchst unterschiedlich genießbar. Schlimmer noch ist, dass einige Tiere und Pflanzen sogar giftig sind und Schimpansenkindern schlecht bekommen würden. Ein junge Affe steht vor der Aufgabe, sich aus dem unübersehbaren Angebot eine Kombination an Pflanzenteilen und Kleintieren zusammenzustellen, sodass er weder verhungert, noch sich vergiftet. Würde er anfangen, alle möglichen Pflanzenteile auszuprobieren, um die Aufgabe nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum zu lösen, würde er seine Abstillzeit kaum überleben.

Es gibt nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Unser kleiner Schimpanse muss schon in der Zeit, in der er noch gestillt wird, von der Mutter lernen, was sie zu sich nimmt. Und tatsächlich beginnt ein Schimpansensäugling bereits im Alter von wenigen Monaten, nach der Nahrung zu greifen, die die Mutter zu sich nimmt und etwas davon zu naschen. Auf diese Weise lernt das Baby, wie eine gute Schimpansenmalzeit aussieht, wie sie riecht und wie sie schmeckt. Es verfügt also schon, bevor es endgültig abgestillt ist, über das kulturelle Wissen, was sich als Nahrung eignet und bewährt hat.

Bei Menschen ist das nicht ganz anders: Ich zeige meinem Kind einen Knollenblätterpilz und erkläre ihm, dass dieser Pilz giftig ist. Das Kind wird diese Informationen lernen, indem es sich das Bild dieses Pilzes zusammen mit der Information über die Giftigkeit einprägt. Und es wird diese Informationen mit anderen schon vorhandenen Informationsinhalten verknüpfen, zum Beispiel mit dem Geschmack von Pilzen und der Erinnerung an sein Kaninchen, das gestorben ist. Auf diese Weise entsteht eine Replikation der Information: „Es ist tödlich, einen Knollenblätterpilz zu essen.“ Die Bedeutung der Information liegt darin, dass sie meinem Kind hilft, seine Umwelt besser zu beherrschen; sie verschafft ihm einen Überlebensvorteil. Irgendwann wird mein Kind dann dieselbe Information, dasselbe „SoftGen“, an seine Kinder weitergeben.

Von der Kindesseite her betrachtet hat die Evolution ebenfalls vorgesorgt, denn sie hat voreingestellt, wie und wann und was es über das Essen zu lernen gibt. Auch für Kleinkinder ist in prähistorischer Zeit die gefährlichste Zeit dann gekommen, wenn sie von der sicheren Nahrungsquelle „Mutterbrust“ zu Nahrung wechseln, die irgendwo aus der Umgebung stammt. Die Lenkung der Nahrungsaufnahme erfolgt zunächst über den Geschmackssinn. Süss, sauer und bitter oder auch umami sind Geschmacksqualitäten, die durch Erbanlagen fixiert sind. Fettes, Eiweißhaltiges oder Süßes bietet in der Regel energiereiche Nahrung. Bitteres und Saures ist eher zu meiden. Pflanzen warnen mit Letzteren möglicherweise vor dem Verzehr von Unreifem oder gar Giftigem. In den ersten zwei Jahren isst das menschliche Kleinkind praktisch alles, was die Mutter ihm vorsetzt, es sei denn, es ist zu sauer oder zu bitter. Danach ist diese Lernphase vorbei. „Neophobie“ ist der Fachausdruck für das, was Väter und Mütter bei größeren Kleinkindern in den Wahnsinn treibt, „Neophobie“ ist die Ablehnung von Speisen, die das Kind nach dieser Lernphase noch nicht kennt. Ihre starke Neigung zur Neophobie schützt Kleinkinder davor, selbst zu explorieren und dabei versehentlich statt Kirschen Tollkirschen zu naschen. Diese Ablehnung von Ungewohntem überwinden die Kinder erst allmählich wieder, indem sie sich am Verhalten von anderen Menschen in ihrem Umfeld orientieren und von ihnen lernen.

Als unsere Vorfahren aus Afrika auswanderten, verbreiteten sich ihre Nachfahren über die ganze Welt und waren mit sehr unterschiedlichen Nahrungsangeboten konfrontiert: Von Ananas bis Zucchini, von Robbentran als Hauptkalorienquelle bei den Inuit im hohen Norden bis zu bestimmten Insekten als Proteinquellen in Mexiko. Das Problem war immer: Wie unterschied man einen Champion von einem Knollenblätterpilz, ohne sich auf tödliche Verzehr-Experimente einzulassen? – Der sicherste Weg ist, auf die Erfahrungen Anderer zurückzugreifen. Fehlen diese, müssen Mutige neue Erkenntnisse gewinnen. Sicherlich ein Grund, warum wir Menschen, die uns nützliches Wissen hinterlassen haben, in hohen Ehren halten.

Konformes Verhalten als Garant der Stabilität von Softgenen

Eine der wichtigsten und weitreichendsten Folgerungen aus der SoftGen-Theorie ist, wie erwähnt, dass Kulturgüter ebenso konservativ tradiert werden müssen wie die Gene. Bei den Genen sind Mutationen in aller Regel schädlich oder neutral. Auch Kulturbausteine müssen über viele Generationen hinweg ohne große Veränderungen „vererbt“ werden, andernfalls könnten sie nicht aufeinander aufbauen. Das, was unter dem Begriff „geheimnisvolles Muster“ diskutiert wurde, zieht sich daher durch unsere gesamte Kultur: Es ist die Replikation des schon Bestehenden. Kultur bringt vor allem immer wieder dieselbe Kultur hervor, dieselbe Sprache, dieselben Rituale, dieselben Techniken und über die Jahrhunderttausende betrachtet in den meisten Zeiten nur wenige Neuerungen. Allerding können revolutionäre Erfindungen wie die Entwicklung der mehrzelligen Lebewesen im Kambrium oder die Erfindungen der Dampfmaschine und des Computers im Anthropozän zu Evolutionssprüngen führen.

Evolution ist vor allem ein Bewahren, weil es zu viele Mutationen gibt, die zum Schlechteren führen. Kaputt gehen kann etwas auf vielfältige Weise, aber ganz bleiben nur auf eine. Funktionstüchtigkeit ist ein außergewöhnlicher und selten lange andauernder Zustand und er muss aktiv erhalten werden. Die „Erhaltung bereits vorhandener Funktionalität“ ist ein Grundproblem der Evolution (Krauß 2021, S. 6). Alles, was existiert, ist dem allmählichen Verfall ausgesetzt, alles zerfällt – gemäß dem Entropiesatz der Thermodynamik – irgendwann in seine einfachsten, energetisch niedrigsten Zustandsformen. Solche Zerfallsprozesse sind in der Biologie z.B. Mutationen. Mutationen wirken in aller Regel nachteilig. Der Evolutionsprozess selektiert daher nicht in erster Linie vorteilhafte Mutationen. Vielmehr „besteht die Selektion in der Regel in sogenannter stabilisierender oder negativer Selektion, die im Gegensatz zur wesentlich selteneren gerichteten oder positiven Selektion gegen Veränderungen des Genoms wirkt.“ (Krauß 2021, S. 7).

Ein Vorteil der genetischen Fixierung von Informationen in der DNS liegt darin, dass dieser Speicher relativ gut gegen Veränderungen geschützt ist. In Zellen kennen wir eine ganze Anzahl von Prüf- und Reparaturmechanismen, die verhindern, dass sich das Erbgut bei der Weitergabe auf die nächste Generation wandelt. Auch für SoftGene sollten Mechanismen existieren, die sowohl die Verbreitung nützlicher SoftGene fördern (positive Selektion), wie auch dem Abweichen von Überliefertem und Bewährtem entgegenwirken (negative Selektion).

Wir können heute anhand von Genveränderungen nachvollziehen, wie sich der Stammbaum der Menschheit entwickelt hat. Es gibt eine genetische Uhr, anhand der wir abschätzen können, wann sich einzelnen Hominidenarten auseinander entwickelt haben. Die Grundlage dieser Zeitmessung bildet die Anzahl von Mutationen seit der Aufspaltung – und die Pfadabhängigkeit. Pfadabhängigkeit meint hier, dass jede Generation von Genen– bis auf geringe Abweichungen – auf die Vorgängergeneration zurückgeführt werden kann.

Das Broca-Areal und das Wernicke-Zentrum als Gehirnorte unserer Sprachverarbeitung haben sich in Koevolution mit unserer menschlichen Kommunikation entwickelt. Das kann nur gelingen, weil sich Sprache und Sprachinhalte in einer ununterbrochenen Folge von den Eltern auf die Kinder übertragen, ohne dass es dabei in einer Gemeinschaft zu größeren Abweichungen kommt.  Und ähnlich wie Gene wandeln sich Sprachen langsam und pfadabhängig: Jede Weiterentwicklung baut auf der vorherigen auf. Ähnlich wie die Ursprungsformen der Genome von Hominiden können wir auch Ursprungsformen von Sprachen rekonstruieren. Ein Beispiel ist das „Indogermanische“. Es bildet die Wurzel alle Sprachen, die wir heute in einem weiten Gebiet von Westeuropa (germanisch) bis Indien (indo-) vorfinden. Bei geschriebenen Texten haben wir alle solch einen, konformes Schreiben erzwingenden Mechanismus in der Schule kennengelernt – die häufige Abweichung von der Rechtschreibung wird mit schlechteren Schulnoten sanktioniert.

Die Mechanismen, die begünstigen, dass sich kulturelle Elemente möglichst unverändert erhalten, werde ich Konformismus nennen. Der Begriff steht hier für ein ganzes Bündel verschiedener Verhaltensdispositionen, die dem kulturellen Wandel Widerstand entgegensetzen. Schon bei Vögeln gibt es zum Erwerb des arteigenen, oft als regionalen Dialekt eingefärbten „Spracherwerbs“ ein Zeitfenster, in dem die Vögel ihren Gesang von denjenigen übernehmen, die sie täglich hören –  ihren Eltern. Dieses Zeitfenster begünstigt die korrekte Wiedergabe der traditionellen Lieder. Von Hand aufgezogene Jungvögel bringen im Erwachsenenalter „nur eine verkümmerte, unnatürliche Version des normalen Gesangs und der sozialen Lautäußerungen von Erwachsenen ihrer Spezies hervor.“ (Safina 2022, S. 202). Dieses Verkümmern der Lernfähigkeiten kann als ein erster Hinweis darauf interpretiert werden, dass nur eine bestimmte Art von Gesang erworben werden soll: die arteigene, von den Eltern Übernommene. Thibaud Gruber vom Swiss Center For Affective Sciences in Genf vermutet auch bei Schimpansen und Orang-Utans eine Art Konservatismus und funktionale Gebundenheit. Die Affen verlassen sich auf ihnen schon bekanntes Wissen. Die „funktionale Gebundenheit“ verhindere dann, dass mögliche innovative Erfindungen gemacht würden (Becker 2021, S. 112 f.). Bei Gehaubten Kapuzineraffen wurden in unterschiedlichen Populationen verschiedenen Formen des Hämmerns, um an das Innere von hartschaligen Nüssen zu gelangen, beobachtet. Diese verschiedenen Kulturtechniken in den verschiedenen Gruppen basieren weder auf Genen noch auf sind sie auf Nahrungsknappheit zurückzuführen: Sie beruhen auf einem tradierten Verhalten, das sozial erlernt ist (Becker 2021, S. 25). Bei Schimpansen lässt sich nachweisen, dass bestimmte Ambossplätze zum Teil mindestens seit 700 Jahren von ihnen benutzt werden (Becker 2021, S. 30). Es gibt also Belege dafür, dass eine Art des konformen Verhaltens auch bei Primaten zu finden ist.

Als die wichtigste Voraussetzung für Konformismus können wir unsere Lernbereitschaft benennen. Sie ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt Wissen über Generationen hinweg weitergegeben werden kann. Unsere Veranlagung zum sozialen Referenzieren, unsere Bereitschaft, SoftGene zunächst vorzugsweise von den Eltern, und später von den Erfolgreichsten oder von der Mehrheit zu übernehmen, sind weitere Bausteine. Wir finden das Bewahren von SoftGenen in dem Begriff „Tradition“, politisch im Konservatismus.

Eine Grundlage der meisten religiösen Überlieferungen ist die Verehrung und Anbetung verstorbener Vorfahren, deren Geister irgendwie weiterlebten (Tomasello 2016, S. 202). Nicht zuletzt deswegen formuliert auch das Alte Testament im fünften Gebot: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, so wie Jehova, dein Gott, dir geboten hat.“ (5.Mose5.16, Elberfelder Bibel 1905). Denn mit den Altvordern ehren wir auch deren Ansichten, deren Wissen und übernehmen so ihre SoftGene möglichst unverändert.

Wir alle sind daran interessiert, in einer stabilen Umwelt zu leben, und dazu gehört auch eine stabile soziale Umwelt. „Wenn man genau darauf achtet, dann stellt man fest, dass sich die allermeisten Menschen an die allermeisten Regeln halten.“ (Warkus 2018). Das Verhalten der Gruppenmittglieder ist damit gut vorhersehbar, was zu einem Gefühl der Sicherheit beiträgt. Der Konformismus hält uns dazu an, gesellschaftliche Rahmenbedingungen einzuhalten und bringt uns dazu, politische, soziale und religiöse Verhaltensregeln zu verinnerlichen.

Sozialforscher unterscheiden grob drei Arten von Einfluss der Gruppe auf den Einzelnen: Gruppenmitglieder (1) beugen sich Druck bzw. reagieren auf einen Anreizen von außen, (2) sie übernehmen soziale Normen in ihr Weltbild, handeln also aus Überzeugung, oder (3) sie orientieren sich an der Mehrheit (Gelitz 2020).

Jeder Mensch kann sich in der Regel bei jeder Entscheidung auf zwei Instanzen stützen: Auf seine eigene Urteilskraft und auf die Meinung der anderen. Je weiter die eigene Wahl und konforme Entscheidung auseinander klaffen, desto eher wird der Mensch auf die Mehrheit hören und seiner eigenen Urteilskraft misstrauen. Es ist ein Schlüsselfaktor sozialer Einflussnahme, dass wir uns an unseren Mitmenschen orientieren. Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass wir Geisteshaltungen unbewusst übernehmen und wir uns erst dann auf die Suche nach Argumenten machen, mit denen wir unsere Meinungen absichern können (Cialdini 2001, S. 61).

Emotional scheinen wir unseren „Wissensschatz“ wie materielle Güter zu bewerten. Wir reagieren auf Gewinne oder Verluste unterschiedlich, auch wenn beides gleichwertig ist: Wir trauern einem verlorenen 50 Euroschein mehr nach, als wir uns über einen Gewinn von 50 Euro freuen würden. Nach diesem Besitztumseffekt messen wir Dingen, die wir besitzen, einen höheren Wert zu, als Dingen, die wir nicht besitzen. Diese kognitiven Verzerrungen des Besitztumseffekts und der „Verlustaversion“ treten nun nicht nur bei Objekten oder Geld auf. Raffinierte psychologische Versuchsanordnungen konnten zeigen, dass wir auch weniger bereit sind, auf Informationen zu verzichten, die uns schon versprochen worden sind – uns also gewisser Maßen schon gehören – auch wenn uns dafür der Gewinn von mehr Informationen winkt: „Menschen hängen an Informationen wie an Gegenständen.“

Insgesamt gilt: Die Beharrungskräfte einer Kultur sind gewaltig, sie machen es schwierig, überkommene Ideen, Ansichten und Verhaltensweisen zu verändern – Traditionen, Sitten und Gebräuche und nicht zuletzt Heimatliebe und Nationalstolz halten uns dazu an, an Überkommenem festzuhalten, Verluste von Gewissheiten schmerzen uns. Die Gesamtheit dieser Mechanismen machen es beinah unmöglich, einen schnellen kulturellen Wandel in einer Gesellschaft herbei zu führen. Das mag der Grund sein, warum die Amerikaner im Irak zwar den Krieg gewinnen, nicht aber einen demokratischen Staat westlicher Prägung errichten konnten. In Afghanistan konnte das westliche Bündnis nicht einmal den Krieg gewinnen und eine Demokratie aufzubauen, scheiterte auch dort am Widerstand der tief verwurzelten Stammestraditionen.

Rhapsoden

Konformismus können wir als Mechanismus der dauerhaften Speicherung von einmal erworbenem Wissen ansehen. Dazu kommt Redundanz: Wissen ist in der Regel auf viele Individuen verteilt. Redundanz ist nötig, damit der erworbene Wissensstand einer Gemeinschaft nicht geschmälert wird, wenn einzelne Individuen zugrunde gehen. Auf diese Weise können wir auf die Erfahrungen einer ganzen Gruppe und auf die Erfahrungen der Altvordern zurückgreifen. Rituale helfen uns dabei, Konventionen und Traditionen zu verinnerlichen und zu bewahren.

Konformität fängt mit der Sprache an. Wir würden uns nicht unterhalten können, wenn nicht Worte, Grammatik und Aussprache von Generation zu Generation vererbt würden, ohne dass sich viel ändert. Ein Indiz für Konformität bezüglich der Sprache ist die erstaunliche Fähigkeit, Mythen und Erzählungen über Jahrhunderte mündlich (und später auch in Schriftform) zu bewahren. Der Verfasser der Odyssee muss von vornherein gehofft haben, dass sein Werk eine weite und lang andauernde mündliche Verbreitung finden wird, denn es ist in epischer Reimform, in Hexametern, verfasst. Durch den Rhythmus der Versform lässt sich der Text besser erinnern. Die Versform verhindert außerdem, dass sich bei der Überlieferung zu viele Fehler einschleichen, denn ein Fehler wird in der Regel das Versmaß stören. Es ist also sozusagen eine Prüfcode eingearbeitet, der auf Veränderungen hinweist. Die um 720 v. Chr. entstandene Urfassung wurde Jahrhunderte lang von sogenannten Rhapsoden weiter getragen und zu Gehör gebracht, ehe sie schriftlich niedergelegt wurde.

Kanonisierung und Normierung

Bei der Unterrichtung unserer Kinder geht es fast immer um dasselbe: Wir lehren sie essen, wie wir selbst essen, sprechen, wie wir selbst sprechen, dieselben Verhaltensweisen und Manieren, die wir von allen Mitbürgern erwarten. Wir lehren sie Mathematik und freuen uns, wenn sie eine Berechnung in derselben Art beherrschen, wie Pythagoras es vorgemacht hatte. Wir lernen als Schüler, dass nicht die Sprachlogik sondern die Dudenredaktion über die rechte Schreibweise wacht und dass Lehrer uns mit schlechten Noten sanktionieren, wenn wir von der kanonisierten Schreibweise abweichen.

Mit der Verbreitung von SoftGenen geht oft ihre Kanonisierung einher: Schon die alten Griechen glauben in ihrem gesamten Dasein an den erzieherischen Wert des Vorbildes. „Was als richtig erkannt war, sollte Kanon und Norm sein.“ (Conti 2000). Dies führt in der Baukunst zum Norm-Tempel, es gibt eine feste Säulenordnung, auf die die gesamte Architektur der Tempel fußt. Tempel werden nicht immer neu erdacht und konstruiert, sondern nach einer bestehenden Vorlage nachgebaut. Abweichungen von der Norm gelten mindestens als stillos. So kommt es, dass wir überhaupt so etwas wie die Dorische, Ionische oder Korinthische Säulenordnung, in späteren Jahrhunderten Stilepochen wie die Gotik, die Renaissance oder das Barock identifizieren können. Und selbst die Götter, die in den griechischen und römischen Tempeln wohnen, erfahren mit dem Monotheismus eine gewisse Art von Normierung: Kämpfen um Troja noch die Götter gegeneinander, und führen sich widersprechende Götter zu sich widersprechenden moralischen Normen, so gilt für die monotheistischen Religionen: Ein Gott, ein Wort, und nach diesem Wort haben sich alle zu richten – aber davon später mehr.

Heute gibt es für Gebäude eine Bauordnung, die vorschreibt, wie genau gebaut werden muss. Und zu den technischen Geräten gibt es Baupläne, nach dem etwas immer und immer wieder identisch zusammengebaut werden kann. DIN-Normen (Deutschen Industrie Normen) helfen dabei, dass auch tatsächlich alle Bauteile zusammenpassen und eine genaue Replikation erfolgen kann. Der Amerikanist Klaus Peter Hansen sieht Normierung geradezu als Kern jeder Kultur: Kultur sei als von Kollektiven getragene Standardisierung aufzufassen (Nakoinz 2009). Wie wichtig Konformismus in Wirtschaft und Technik ist, lässt sich nicht nur an den DIN ablesen, sondern auch z.B. am Euro: Die Normierung auf ein und dasselbe Zahlungsmittel hatte so gewaltige wirtschaftliche Bedeutung, dass eine ganze Anzahl von europäischen Staaten dafür auf ein Stück Souveränität verzichteten.

Nicht nur für Soziologen sind gesellschaftliche Normen von besonderem Interesse, sondern auch für Naturwissenschaftler. Und so haben letztere viel Mühe darauf verwendet, ihre grundlegenden Einheiten: Sekunde, Meter, Kilogramm, Ampere, Kelvin, Mol und Candela genau und allgemeingültig zu definieren. Und daran sollten sich dann auch alle halten! Als die 125 Mio. teure Marssonde Climate Orbiter der NASA 1999 auf dem Marsboden zerschellte, lag es nicht an einem technischen Versagen, sondern daran, dass die beteiligten Ingenieure in verschiedenen Maßeinheiten gerechnet hatten, die einen in Fuß, die anderen in Metern. Es war ein sehr teurer Clash of Cultures zwischen US-Normen und EU-Normen. Ein schönes Beispiel für die Konstanz von SoftGenen ist auch die Zitierpflicht in den Wissenschaften: Sie gewährleistet, dass Wissen unverändert übernommen wird.

Normangleichende Aggression

Wir können vermuten, dass der Konformismus in uns vor langer Zeit angelegt wurde, denn wir fordern konformes Verhalten nicht mit Argumenten, sondern mit Emotionen ein: Wir empfinden Wut über Abweichungen und Glücksgefühle bei Übereinstimmungen. Innerhalb einer Kulturgruppe gibt es einen „Selektionsdruck in Richtung Imitation und Konformität.“ (Tomasello 2016, S. 216). Kulturnormen werden verteidigt, es gibt eine „normangleichende Aggression“. Sie wendet sich innen gegen Abweichler, nach außen gegen Fremde. Innerhalb einer Gemeinschaft gilt: Wer aus der Rolle fällt, bekommt Probleme. Wir geraten in Wut, wenn jemand kulturelle Normen verletzt: Jemand nimmt mir die Vorfahrt, schmeißt mir Müll in den Vorgarten oder furzt laut bei Tisch. Alles Sachen, die „man nicht macht“. Unser Gefühl für Scham bewirkt, solche Dinge zu unterlassen. Auf der institutionellen Ebene zwingen uns Strafgesetz und Bürgerliches Recht, uns konform zu verhalten. Die Sanktionen durchlaufen verschiedene Eskalationsstufen: Es beginnt mit Hänseln, Auslachen und Verspotten, mit Mobbing. Eine große Rolle spielen dabei Klatsch und Tratsch als Mittel zur sozialen Normkontrolle. In Fällen, die als kriminell eingestuft werden, kann ein Verurteilter sogar durch eine Gefängnisstrafe aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

In der Fremde fühlt sich ein Individuum entwurzelt, der Verlust der eigenen kulturellen Umgebung wirkt nur schwer erträglich. Gleichzeitig schlägt einem Fremdling nicht selten Ablehnung entgegen, z.T. sogar Fremdenhass. Die fremde Kultur erwartet, dass sich das neu hinzugekommene Individuum an sie anpasst. Das wusste man schon in der Antike: „Bist du in Rom, benimm dich wie ein Römer“ (Si fueris Romae, Romano vivito more!) Anderenfalls drohen Sanktionen, bis hin zur Ablehnung, zu Rassismus. Auf Rassismus als weitreichende Folgerung aus dem Konformismus, der durch die SoftGene erzwungen wird, kann hier zunächst nur hingewiesen werden, die Erörterung dieses Aspektes bedarf eines eigenen Buches.

Religiöse Konformität

Soldaten werden in Uniformen gesteckt, was sie sogar in ihrer Erscheinung normiert, sie haben im Gleichschritt zu marschieren und sind sicherlich das eindrücklichste Beispiel für erzwungene Konformität. Im zivilen Leben finden wir den stärksten Druck zur Konformität bei SoftGen-Komplexen wie die Katholische Kirche oder die Marxistische Ideologie. Mit ihrem 1542 gegründeten Heiligen Offizium, dem Sitz der Inquisition (heute: Kongregation für die Glaubenslehre) schuf die Katholische Kirche eine Institution, die jegliche Abweichung vom rechten Glauben als Ketzerei brandmarkte und ausmerzte. Ähnlich verhielt es sich in den kommunistischen Staatsgebilden, wo Abweichungen von der offiziellen reinen Lehre mit Gulag und Hinrichtungen geahndet wurden.

Natürlich gibt es, in Bezug auf Religionen die Möglichkeit, dass ein Mensch freiwillig zu einem Glauben konvertiert, aber das ist die Ausnahme und ist wahrscheinlich auf starke innere Konflikte, auf kognitive Dissonanzen und auf soziales Referenzieren zurückzuführen.

Denn weil religiöser Konformismus so wichtig ist, wird nicht nur der Christliche Glaube mit Feuer und Schwert verbreitet. Vielerorts wird die Staatsgewalt als göttliche Stiftung aufgefasst, die jeweiligen Herrscher fühlen sich berechtigt, die staatlich anerkannte Religion durchzusetzen. Dies lässt sich ebenso im alten Ägypten wie im antiken Griechenland oder im Kaiserkult des Römischen Reiches nachweisen. Mit Kaiser Konstantin wird 380 das Christentum Staatsreligion im Römischen Reich, und auch im Mittelalter des Heiligen Römischen Reichs stellt das katholische Christentum bis zu Beginn der Frühen Neuzeit faktisch die Staatsreligion dar. „Häresie, also religiöse Abweichungen innerhalb der Kirche, werden nach dem Reichsrecht verfolgt.“ (wikipedia 07)

Eine weitere Regel ist: Eine Religion wird vererbt. Katholiken bekommen Söhne und Töchter, die Katholiken werden, Protestanten zeugen Kinder, die später dem protestantischen Glauben anhängen, in Staaten mit islamischen Staatsreligionen werden die Kinder Moslems und in Indien werden sie, wenn sie in einem hinduistischem Haushalt aufwachsen, Anhänger des Hinduismus. Von Generation zu Generation übertragen, konnten sich diese Weltreligionen beharrlich erhalten, selbst wider aller rationaler Erkenntnissen. Religionen haben sich als nahezu resistent erwiesen, wenn es darum ging, sich an neu erworbene Erkenntnisse oder an den gesellschaftlichen Wandel anzupassen, ein starker Beleg für den Konformismus in Hinblick auf die Bewahrung von SoftGenen.

Schon Montesquieu war aufgefallen, dass jede verfolgte Religion ihrerseits mit Verfolgungen beginnt, sobald sie sich etabliert hat, sie also anfängt, Konformismus einzufordern (Godman 2001, S. 248). Konformität gegenüber dem Glauben ist Pflicht, und so heißt das erste der zehn Gebote: „Du sollst keine andern Götter haben neben mir.“ (2.Mose20.3, Elberfelder Bibel 1905). Abweichler, also Ketzer, wurden und werden – zum Teil heute noch – erbarmungslos verfolgt. Dort, wo Religionen immer noch den Alltag bestimmen, gilt nach wie vor: wehe dem, der nicht konform des Glaubens lebt.

Ungläubige werden mindestens als unmoralisch angesehen. Denn da Andersgläubige den vorgeschriebenen moralischen Gesetzen nicht unterliegen, sind sie nicht nur andersgläubig, sondern moralisch minderwertig und dürfen im Zweifelsfalle umgebracht werden. „Selbst in säkular geprägten Ländern wie Australien, China, Tschechien, den Niederlanden oder Neuseeland [traut man] Atheisten eher Untaten zu. […] Die Vorstellung vom unmoralischen Atheisten speise sich […] aus der Idee, dass Ungläubige keine göttliche Strafe für verwerfliches Handeln fürchten müssten.“ (Herrmann 2017). Den Zusammenhang zwischen Religion und Moral werden später wir noch vertiefen.

Kooperation und moralisches Verhalten

Eine höher entwickelte Kultur ist, wie dargelegt, ein Phänomen einer Gruppe von Individuen. Nur gemeinschaftlich können Kulturbausteine, die nicht in den Genen verortet sind, Stein für Stein zu einem immer komplexer werdenden Gebäude aufgetürmt werden. Da aber ein kooperatives Individuum vordergründig Ressourcen für die Gruppe opfern muss, die es nicht für seine eigenen Zwecke verwenden kann, ist die Entstehung von Kooperation aus der Evolution heraus nicht ohne weiteres zu erwarten. Denn nach Dawkins sind Gene egoistisch! Betrachten wir nun also den Zusammenhang zwischen Evolution, Kooperation und Kultur etwas genauer.

Kooperation kann sich überall dort entwickeln, wo der eigene Erfolg vom Verhalten anderer abhängt. Einer der Gründe, warum sich Kooperation gegenüber dem Konkurrenzverhalten evolutionär durchsetzen konnte, mag in den Vorteilen der Brutpflege ihren Ursprung haben. Brutpflege ermöglicht, die Anzahl der Nachkommen zu reduzieren, weil die Überlebenswahrscheinlichkeit der Kinder durch den Schutz steigt, den die Mutter- oder die Elterntiere bieten. Eine Reduzierung der Anzahl der Nachkommen lässt sich durch Qualität kompensieren. Das ist von Vorteil, weil Quantität Ressourcenverschwendung ist, da i.d.R. ein Großteil des Nachwuchses untergeht. Dazu kommt, dass es insbesondere durch die gemeinsame Brutpflege möglich wurde, Nachkommen in einem unreiferen Entwicklungsstadium zur Welt zu bringen, was für die Entwicklung zum H. sapiens von großer Bedeutung war.

Kooperation bezieht sich bei uns Menschen aber nicht nur auf die Arbeitsteilung von Frauen und Männern, um Kinder großzuziehen, sondern betrifft unsere gesamte Lebensgestaltung. Wir haben einen, uns von der Evolution mitgegebenen, emotionalen Hang zur Kooperation innerhalb unserer Gemeinschaft, den wir nur durch starke kognitive Anstrengungen überwinden können (de Waal 2015 (1), S. 70). Sarah Blaffer Hrdy nennt es eine „festverdrahtete Kooperationsbereitschaft.“ (Hrdy 2010, S. 15). Testet man zweijährige Schimpansenkinder und zweijährige Menschenkinder auf motorische Fähigkeiten hin, haben die Affen einen Vorsprung. Werden aber soziale Interaktionen getestet, dann sind Menschenkinder den kleinen Schimpansen haushoch überlegen (Bahnsen & Schnabel 2012). Hoch entwickelte Kompetenzen, wie unsere „Soziale Intelligenz“, unterscheiden uns deutlich von den anderen Primaten und vom übrigen Tierreich. Soziale Intelligenz meint die Fähigkeiten, mit anderen mitzufühlen, sie zu verstehen und zu beeinflussen. Wir vermögen es, uns in andere Personen hineindenken und auf diese Weise die Folgen unserer Entscheidungen und Handlungen einschätzen. Wir können die Handlungen, Entscheidungen und Wünsche der anderen verstehen und uns entsprechend verhalten. Beides ist für eine effektive Kommunikation zwischen Mitmenschen unerlässlich. Was uns auszeichnet, sind nicht nur unsere individuellen Fähigkeiten, etwa, dass wir Klavier spielen können, sondern, dass wir als Orchester musizieren können. Erst aus dieser Kooperationsfähigkeit heraus können wir unsere Kultur so hoch entwickeln.

Aber es steckt noch etwas anderes, durchaus geheimnisvolles in der Kooperation! Sie ist die Triebfeder der Emergenz. Es gibt in der Evolution sogenannte große Übergänge (major transitions), deren Charakteristikum der Zusammenschluss mit Arbeitsteilung ist. Die zwei vielleicht bedeutendsten sind zum einen, dass sich vormals konkurrierende DNA-Stücke in einem Genom vereinen, zum anderen, dass sich im Kambrium erste Zellen zu höheren Organismen organisieren. Damit gewinen alle Beteiligten einen zusätzlichen Vorteil. Die individuelle Zelle stellt ihre speziellen Fähigkeiten in den Dienst eines Körpers, der Körper stellt der einzelnen Zelle Nährstoffe zur Verfügung. Dadurch wird es möglich, völlig neue ökologische Nischen zu besetzen. Das sind zwei dieser Großereignisse, wobei jeweils die Konkurrenz durch Kooperation abgelöst wird. Das Geheimnisvolle daran ist, dass etwas gänzlich Neues dabei entsteht! Zweifellos stellt die Entwicklung von Kultur, die zu einem großen Teil auf Kooperation aufbaut, einen weiteren großen Übergang dar.

Nullsumme und Mehrwert

Betrachten wir die Vorteile der Kooperation etwas genauer: Poker ist ein sogenanntes Nullsummenspiel. Die Menge des Geldes, das am Tisch eingesetzt wird, bleibt immer gleich, es wechselt im Laufe des Spieles nur den Besitzer. Auch Gewaltausübung ist in den meisten Fällen höchstens ein Nullsummenspiel: Das, was der Eine gewinnt, verliert der Andere, gelegentlich verlieren Beide. Alle früheren Kriege und die meisten heutigen sind solche Nullsummenspiele – man vereinnahmt Bodenschätze und raubt Nahrungsgüter oder presst Abgaben aus der unterlegenen Bevölkerung. Bei einer Kooperation verhält es sich anders: Entfernt ein Bonobo seinem Kumpel die lästigen Zecken und sonstige Parasiten, und er ihm die seinen, so haben beide eine Menge mehr vom Leben, ohne dass die Kosten besonders hoch sind. Gegenseitige Unterstützung und auch der Schutz, den eine Gruppe bietet, zahlen sich für beide Seiten in der Affenhorde aus.

Für den H. sapiens wird die Hinwendung zu kooperativem Verhalten spätestens bei der eiszeitlichen Jagd auf Mammuts zwingend: Kein Jäger kann als Einzelgänger solche großen Tiere erlegen und er könnte den Kadaver anschließend auch nicht gegen konkurrierende Raubtiere wie Säbelzahntiger oder Höhlenbären verteidigen. In eiszeitlichen Gefilden können unsere Vorfahren nur in einer kooperierenden Gemeinschaft überleben.

Allgemeiner gilt, auch wenn wir es vielleicht nicht direkt als Kooperation betrachten möchten: Das gesamte globale Leben, Gaia, ist ein gewaltiges Räderwerk in gegenseitiger Abhängigkeit – wobei jedes Zahnrad seinen Teil beizusteuern hat. Ökosysteme sind biologische Ökonomien auf der Basis der Nachhaltigkeit. Das kann nur funktionieren, wenn alle davon letztlich profitieren. In unserer modernen Welt heißt dieses Zusammenspiel vielfach: Arbeit gegen Lohn. Die Arbeitsteilung bewirkt, dass, obwohl jeder seine eigenen Interessen verfolgt, jeder vom egoistischen Streben des anderen profitieren kann, solange alle sich spezialisieren. Aus diesem Grunde sind wir soziale Lebewesen, weil wir mehr Gewinn aus unserem sozialen Leben ziehen, als wir in aller Regel als Einzelkämpfer erringen könnten.

Kooperation generiert im Sinne eines Positivsummenspiels einen Mehrwert. Der Volkswirtschaftler David Ricardo formulierte 1817 das Gesetz des „relativen Vorteils“ auch das Gesetz des „komparativen Kostenvorteils“ genannt: Wenn zwei Individuen sich hinsichtlich ihrer relativen Effizienz in der Güterproduktion unterscheiden, werden beide vom wechselseitigen Handel profitieren, selbst wenn der eine alles besser kann als der andere. Von Winston Churchill wird erzählt, dass er ein guter Maurer gewesen war. Trotzdem würde er sich wohl kaum sein Haus selbst Stein auf Stein hochgemauert haben. Denn er hat einen größeren persönlichen Vorteil, wenn er die Dienstleistung einer Baufirma kauft, um in der gewonnenen Zeit den britischen Staat zu lenken. Dies ist einer der Gründe, warum volkswirtschaftlich gesehen die Globalisierung ein Segen ist, auch wenn nicht jeder davon gleichermaßen profitiert und auch wenn das nicht jeder wahrhaben mag: Deutschland liefert die Werkzeugmaschinen und kauft die damit gefertigten Produkte dann auf dem Weltmarkt, statt jede Socke selbst herzustellen und dafür dann aber keine Abnehmer für die Maschinen zu finden.

Der Schlüssel für den komparativen Kostenvorteil ist die Arbeitsteilung. Die erste effiziente Lastenteilung entwickelte sich zwischen Mann und Frau, vor allem deshalb, weil ein Menschenkind eine so lange Kindheit hat und der Aufwand für die Betreuung so hoch ist. In fast allen indigenen Stammeskulturen jagen i.d.R. die Männer und die Frauen sorgen für die pflanzliche Nahrung (Hrdy 2010, S. 28 f.).

Eine gewisse Geschlechterdifferenzierung bezüglich der Nahrungsbeschaffung finden wir auch schon bei Schimpansen: Während Schimpansinnen häufiger und ausdauernder nach Ameisen und Termiten angeln, erbeuten Männchen viel öfter auch „Wirbeltiere wie Affen, Buschschweine, Buschböcke, Fledermäuse, Schlangen, Vögel und Eiern […].“ (Becker 2021, S. 121).

Echte Kooperation zwischen uns Menschen entwickelt sich Schritt für Schritt: Bringt in einer steinzeitlichen Kultur ein Jäger ein großes Stück Wildbret nach Hause, kann er davon abgeben, denn allein kann er es eh nicht aufessen. Und in der Eiszeit ermöglicht überhaupt erst die gemeinschaftliche Jagd den Menschen, Mammuts zu erlegen – alle Jäger zusammen können sich so Ressourcen erschließen, die einzelnen Jägern nicht zugänglich sind. An Tagen ohne Jagdglück können Männer wie Frauen von der pflanzlichen Nahrung profitieren, die überwiegend die Frauen beisteuern. Insgesamt rechnet sich so ein Verhalten für alle Seiten. Denn wer miteinander teilt, minimiert das Risiko, an schlechten Tagen mit leerem Magen da zustehen. Aus dem Teilen der Nahrung wird ein universeller Wesenszug der menschlichen Kultur. Anthropologen haben herausgefunden, dass gemeinsames Essen einen in jeder Gesellschaft existierenden Charakterzug darstellt, während z.B. Katzen und Hunde ihren Futternapf eifersüchtig gegen potentielle Mitesser verteidigen.

Wichtig für das kooperative Verhalten ist: die Kosten müssen niedriger sein als der Gewinn, es muss ein Positivsummenspiel sein. Der Vorteil komparativer Kosten führt zwangsläufig zur Entwicklung von Moral. Jeder wirtschaftlichen Transaktion liegt eine Form von Vertrauen zugrunde. Die Tugendhaften sind nur tugendhaft, weil es sie befähigt, ihre Kräfte mit anderen Tugendhaften zum gegenseitigen Vorteil zu bündeln.“ (Ridley 1997, S. 209). Erst Glaubwürdigkeit und Fairness ermöglichen, den Gewinn durch den komparativen Kostenvorteil zu erzielen. Die Fähigkeit zu moralischem Verhalten wurde dadurch so wertvoll, dass sie in uns genetisch angelegt wurde und damit ist sie viel älter, als jede menschliche Zivilisation.

Heute gibt es Urkunden und Verträge, Kassenzettel, Quittungen, Fahrkarten, Stechuhren und das Bürgerliche Gesetzbuch als Hilfsmittel gegen betrügerisches Verhalten. Moralische Verhaltensweisen sind die Grundlage prosperierender Volkswirtschaften. Unternehmen verlieren sehr schnell ihre Kunden, wenn sie betrügen. In allen wohlhabenden Staaten mit Ausnahme der Erdölstaaten, deren Reichtum nicht auf eigenen Anstrengungen fußt, ist die Demokratie die Grundlage des Wohlstands, denn Demokratie ist die fairste Regierungsform, die wir kennen.

Der Wahrheit auf der Spur

Die Notwendigkeit, sich kooperativ zu verhalten, erzwingt die Entwicklung von SoftGenen, die ein Zusammenleben von nicht verwandten Individuen ermöglichen. Die wichtigsten dieser Kulturgüter sind Moral und Gesetz. Und diese müssen durchgesetzt werden können. Auch dafür bedarf es kultureller Bausteine.

„Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum wurden seit eh und je durch die Katholische Kirche geschieden. Diese heilige Mutter, die nie irrte und sich nie veränderte, war immer da, um ihre Kinder zu belehren und zu strafen.“ (Godman 2001, S. 36). Diese Zeiten sind vorbei. Heute glauben wir nicht mehr an die Schöpfungsgeschichte als reales Ereignis und die Autorität der Katholischen Kirche ist vielfach geschwunden. Genau so, wie wir heute der von den Kosmologen entwickelten Theorie über den Urknall den Vorrang geben, genau so lassen sich heute für „Wahrheit und Irrtum“, für „Gut und Böse“, naturwissenschaftlich basierte Erklärungen finden.

Zum Beispiel begünstigt die Selektion durch die Partnerwahl der Weibchen diejenigen Männchen, die eine zuverlässige Einschätzung erlauben. Der Federschwanz des Pfauenhahns signalisiert fälschungssicher durch Größe und Farbe die Qualität des Vogelmännchens. Nur die Hähne mit den größten und farbenprächtigsten Federschmuck werden von den Hennen erhört. Mit fälschungssicheren Merkmalen kommt Ehrlichkeit in die Natur, weil die Henne sich auf die Fälschungssicherheit der Qualität des männlichen Pfauenschwanzes verlassen kann. Wie wichtig Fälschungssicherheit und damit Aufrichtigkeit für uns Menschen ist, zeigt das Edelmetall Gold. Gold gilt als wertvoll, weil es selten und sehr schwer zu fälschen ist. Damit wird es, wie der Pfauenschwanz für den Pfau, zu einem Signal für evolutionäre Fitness. Es signalisiert bis heute Reichtum und einen hohen Status und damit – weitgehend fälschungssicher – die Möglichkeit, gut für den Nachwuchs sorgen zu können. Seit Papiergeld und Scheckkarte das Gold ersetzt haben werden, um Ehrlichkeit und Fälschungssicherheit zu garantieren, ganzen Industrien erschaffen, die Betrug verhindern sollen, bis hin zu den heutigen Kryptowährungen wie Bitcoin.

Ehrlichkeit ist adaptiv. Es ist vorteilhaft, Ehrlichkeit zu vererben, genetisch oder auch kulturell. Wolfgang Wickler erzählt die Geschichte von einer Polarfüchsin, die mit einer Beute nach Hause kommt (Wickler 1971 S, 135 f.). Ein Jungtier springt sie bettelnd an, dabei fällt die Beute herunter und der Jungfuchs macht sich sogleich darüber her. Die Füchsin geht ein paar Schritte umher und muss zusehen. Plötzlich hebt sie die Schnauze und stößt den hohen Warnschrei aus, der normalerweise den Nachwuchs vor Gefahr warnt. Der Jungfuchs lässt sofort ab von der Beute und verschwindet eilig im Bau. Die Füchsin macht sich daraufhin über ihre wiedergewonnene Beute her. Warum dieses Verhalten sich langfristig nicht etablieren kann, gibt der Nachspann der Geschichte preis. Denn wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er jetzt die Wahrheit spricht. Nachdem die Füchsin sich so einige Male einen Vorteil verschafft hat, lernt der Jungfuchs, die Täuschung zu durchschauen und reagiert nur noch sehr zögerlich auf den Warnruf. Wenn eine echte Gefahr droht, stellt das zögerliche Reagieren auf Signale, die eigentlich eine sofortige Flucht indizieren, ein deutlich erhöhtes Sterberisiko für den Nachwuchs dar. Der Fortpflanzungserfolg von Füchsen, die ein so „betrügerisches“ Verhalten an den Tag legen, ist wahrscheinlich geringer als der der „ehrlichen“ Füchse. So wird sich mit der Zeit die Linie der ehrlichen Füchse durchsetzen.

Für Männer ist es, aus der Sicht der Gene betrachtet, der GAU, in ein Kind zu investieren, dass nicht von ihm selbst gezeugt ist. Und so vermittelt die weibliche Liebe und Treue bei Menschen dem Mann die Gewissheit, „dass er der Zeuge der Kinder ist, was ihn veranlasst, in den Nachwuchs zu investieren.“ (Christakis 2019, S. 187). Insgesamt gilt: Die Notwendigkeit, in einer gut funktionierenden Gesellschaft zu leben, erfordert die Evolution von Ehrlichkeit und letztlich die Entwicklung von Moral und Gewissen.

Altruismus

Für den Verhaltensforscher Frans de Waal fußt die Moral auf einem Gerechtigkeitsempfinden, dass sich aus dem Interesse heraus entwickelt, zu kooperieren – und sie ist damit nicht allein dem Menschen zu eigen (de Waal 2015 (2)). Für ihn ist „die mütterliche Fürsorge zumindest bei Säugetieren ein Prototyp von Altruismus,“ denn deren Brutpflege ist die „kostspieligste und längste Investition in ein anderes Wesen, die es in der Natur gibt.“ (de Waal 2015 (1), S. 73 f.). Altruismus bedeutet das Gegenteil von Egoismus. Er drückt sich durch Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit und Rücksicht aus. Insbesondere gelten Handlungen als altruistisch, wenn ein Mensch einem anderen hilft, ohne dadurch direkt einen Vorteil zu erlangen.

Eine nicht so weit reichende Form des Altruismus ist seine reziproke Variante. Wir können uns den von Robert Trivers analysierten reziproken (wechselseitigen) Altruismus als einen Akt des Helfens vorstellen, der uns kurzfristig teuer zu stehen kommt, sich aber auf längere Sicht für uns auszahlt. Wie weitreichend Verwandtschaftsaltruismus und reziprokes altruistisches Verhalten überhaupt im Tierreich oder unter Menschen verbreitet ist, darüber streiten sich die Evolutionsbiologen nach wie vor (Fetchenhauer & Bierhoff 2004, S. 131).

Anfänge des reziproken Altruismus finden wir z.B. im Vogelformationsflug. Waltrappe (Geronticus eremita), etwa gänsegroße Ibis-Vögel, wechseln sich bei der energieaufwändigen Führungsarbeit im V-Formationsflug ständig an der Spitze ab. Die dahinter fliegenden Vögel profitieren vom Aufwind des Flügelschlages des vor ihnen fliegenden Vogels. „Der Flug in V-Formation ist nicht nur ein überzeugendes Beispiel für wechselseitigen Altruismus bei Tieren, sondern liefert auch Hinweise auf die Umstände, unter denen er sich evolutionär durchgesetzt haben könnte.“ (Merlot 2015). Jedes einzelne Tier erzielt bei dieser Form der Kooperation einen Gewinn im Sinne eines Positivsummenspiels. Dieselbe Art Altruismus finden wir dann bei der Tour de France wieder, wenn sich die Mitglieder eines Rennstalls gegenseitig bei der Führungsarbeit ablösen, während die anderen vom Windschatten des Voranfahrenden profitieren.

Charakteristisch für höhere Formen des reziproken Altruismus ist, dass zwischen Geben und Nehmen ein größerer Zeitraum besteht. Zunächst profitiert nur der Nehmende. Gleichwohl wird eine Einlösung der daraus entstandenen Verpflichtung erwartet. Dies setzt voraus, dass wir wissen, wem wir helfen und dass wir darauf vertrauen, in einem ähnlichen Fall unsererseits Unterstützung zu erhalten (Ridley 1997, S. 224 ff.). Ein Individuum muss andere Mitglieder seiner Gemeinschaft unterscheiden und sich an deren Verhalten in Bezug auf die eigene Person erinnern können. Aus diesem Grund erfordert ein hoch entwickelter reziproker Altruismus ein hohes Maß an Intelligenz – wir können ihn im Tierreich erst ab einer gewissen Gehirnkapazität erwarten.

Ein modernes Beispiel für den reziproken Altruismus mag unser Geldkreislauf sein. Dabei wird eine Wohltat (z.B. eine Dienstleistung) gegenüber einem Mitglied der Gemeinschaft geleistet und man bekommt dafür ein von der Gemeinschaft verbrieftes festes Versprechen (ausgedrückt durch einen Geldbetrag), dass man eine äquivalente Wohltat zurück erhält. Geber und Nehmer sind dabei in einer wirtschaftlichen Gemeinschaft verbunden, in der letztlich eine (leider nicht immer faire)  Form der Reziprozität gilt.

Das, was wir als „Prestige“ kennen, ist eine andere Folge eines reziproken Altruismus: Neben den Menschen sind Krallenaffen (Cebidae) die einzigen Primaten, bei denen man eine Art Schenkbereitschaft beobachtet hat. Allerdings hängt diese vom „Ansehen“ des Hordenmitglieds ab: Tamarine sind „großzügiger gegenüber ehemaligen Wohltätern und knauseriger gegenüber einstigen Geizhälsen.“ (Hrdy 2010, S. 139). Das Prestige des Wohltäters zahlt sich also aus.

Altruistisches Verhalten, oder umgangssprachlicher: „Kooperationsfähigkeit und Tugendhaftigkeit“ sind in der menschlichen Gesellschaft nicht aufgrund einer von einer Gottheit eingeforderten Moral entstanden, sondern die Moral resultiert aus der konsequenten Verfolgung individualistischer Ziele. Und wie wir noch sehen werden, sind, um Moral durchzusetzen, Götter sehr hilfreich. Adam Smith erhebt in seinem 1776 erschienenen Buch „Wealth of Nations“ den Egoismus des Einzelnen zum Leitprinzip der Gesellschaft. Aber gerade Egoisten müssen auf tugendhaftem Verhalten bestehen, weil sie sonst den Nutzen verlieren, der ihnen aus den Vorteil der komparativen Kosten entsteht. Letztlich muss sich die Kooperation für ein Individuum lohnen, sonst wären immer diejenigen im Vorteil, die sich unkooperativ verhalten. Wir sehen hier den Konflikt von Individual- und Gruppenselektion durchscheinen. Weil der reziproke Altruismus beim Aufbau einer kooperativen Gemeinschaft eine bedeutende Rolle spielt, besteht gleichzeitig ein beträchtlicher Selektionsdruck dahingehend, Betrüger, die ihren Anteil an der wechselseitigen Hilfeleistung nicht erfüllen, zu entlarven und zu sanktionieren (Sapolski 2017, S. 419).

Moral und Urteil

Viele unserer moralischen Verhaltensweisen können wir rational nachvollziehen, weil die Evolution einer inhärenten Logik folgt. Überall dort, wo die Umweltbedingungen hart waren, wie z.B. in der Tundra der Eiszeiten, wo der Jagderfolg auf Mammuts nur in der Gruppe gelingen konnte, waren Menschen auf Verhaltensstrategien zur Festigung des Gruppengefüges angewiesen. Sie waren es ebenso dort, wo Landwirtschaft und Tierhaltung politische Strukturen erforderten, damit sich alle an die Regeln hielten. Kodiert wurden diese Regeln zur Festigung der Gemeinschaft zunächst als Moral.

Moral als Verhaltensoption ist daher uralt und schon in unseren Genen verankert. Moralische Urteile sind Bauchentscheidungen, erst im Nachhinein versuchen wir, diese Urteile rational zu begründen. Und so irrt Dawkins, als er meint, dass wir wenig Hilfe von unserer biologischen Natur erwarten könnten, wenn ein Einzelner wie er „eine Gesellschaft aufbauen möchte, in der die Einzelnen großzügig und selbstlos zugunsten eines gemeinsamen Wohlergehens zusammenarbeiten.“ (Dawkins 2008, S. 121). Die Evolution gibt uns ein Gewissen mit, das uns Unlust fühlen lässt, wenn wir „unmoralisch“ handeln. Moral und Tabus halten uns auf der emotionalen Ebene davon ab, Regeln zu brechen. Aufsetzend auf unserer Veranlagung etabliert sich ein moralischer Kompass, der die Kooperation befördert und dessen Richtweisungen konformistisch verankert ist. Unsere moralischen Empfindungen beziehen sich auf das Zusammenleben mit anderen, vor allem mit nichtverwandten Mitgliedern, allerdings nur auf die der eigenen Gemeinschaft.

Es gibt den verbreiteten Glauben, geteilt vor allem von Religionsgläubigen, dass Moral etwas von Gott Gestiftetes sei. Aber weder hätten Gemeinschaften der vorhistorischen Zeit ohne moralische Grundsätze überdauern können, noch kann man Menschen, die abseits  der großen religiösen Systeme leben, moralisches Verhalten a priori absprechen. Frans de Waal formuliert es so: Ihm sind „Menschen suspekt, die nur durch ihr Glaubenssystem davon abgehalten werden, eine abscheuliche Tat zu begehen.“ (de Waal 2015 (1), S. 11). Und leider ist es noch dramatischer: Menschen begehen abscheuliche Taten aus ihrer moralischen Überheblichkeit heraus, die sie aus ihrem Glauben schöpfen. Beispiele sind die Verbrennung von Hexen in der frühen Neuzeit oder die Selbstmordanschläge auf das World Trade Center / New York am11. September 2001.

Die Entwicklung eines SoftGens am Beispiel Religion

Götter spielten und spielen eine herausragende Rolle bei der Etablierung moralischer Gesetze. Bleiben wir daher noch einen Augenblick bei Religionen, denn sie sind ein schönes Beispiel dafür, wie komplexe SoftGene entstehen können. Dawkins vermutete in Bezug auf sein Mem „Gottheit“: „Wir wissen nicht, wie sie im Mempool entstanden ist. Wahrscheinlich wurde sie viele Male durch voneinander unabhängige „Mutationen“ geboren.“ (Dawkins 2001, S. 310). Machen wir uns also auf die Suche, welche Mutationen erforderlich gewesen sind, ein SoftGen wie Thor oder Zeus hervorzubringen.

Wenn SoftGene sich wie die Religionen evolutionär entwickelt haben, müssen wir nach ihrer Nützlichkeit (Fitnessrelevanz) Ausschau halten. Moral und Religionen scheinen irgendwie zusammen zu gehören. Eine gute Ausgangshypothese ist daher, nach einem Zusammenhang zwischen Moral und Göttern zu suchen. Aus „der Hirnforschung wissen wir inzwischen, dass Spiritualität – das Aufweichen der Ich-Umwelt-Abgrenzungen – genauso universell ist wie Religiosität, dem Glauben an überempirische Akteure, an übermenschliche Wesen. Diese beiden Erfahrungsdimensionen werden in ganz unterschiedlichen Gehirnregionen bearbeitet und können auch unabhängig voneinander auftreten.“ (Blume 2020 (1)). Weil diese SoftGene des Metaphysischen sich genetisch verankern konten, begleiten sie die Menschheit offenbar schon lange. Ihren Ursprung finden wir vermutlich im Revierverhalten.

Der Mensch besitzt, wie seine äffischen Vettern, die Schimpansen, einen deutlichen Hang zur Territorialität. Das kann man leicht ausprobieren, indem man sich auf einen Platz setzt, den jemand kurz für einen Gang zur Toilette freigemacht hat. In der Regel gibt das Zoff, wenn der Erstbesitzer zurückkehrt. Auch Handtücher auf Saunaliegen bebildert unseren Kampf um die guten Platze.

Territorialität dient der Deckung der elementaren Bedürfnisse einschließlich der erfolgreichen Fortpflanzung. Wir finden dieses Verhalten im Tierreich weit verbreitet, wenn ein Vogel seinen Nistplatz verteidigt und der Tiger sein Revier. Sogar so simpel gestrickte Organismen wie die Gallenblattläuse kämpfen um ein Territorien, wenn es um den besten Platz für die Eiablage geht. Revierbesitz bei Löwen lässt sich ökologisch gut begründen. Löwen halten Einzelgänger von ihrem Revier fern und töten sie bisweilen sogar. Wenn eine Löwengruppe ein Gebiet bestimmter Größe für sich beansprucht, legt sie damit die Bevölkerungsdichte dieser Raubtiere fest. Denn die Anzahl der Löwen in einem bestimmten Gebiet ist dann weniger abhängig vom Nahrungsangebot, und mehr von der Anzahl der Reviere, die verfügbar sind. Das verhindert eine Übernutzung der Nahrungsangebote. Gäbe es keine Reviere, würden sich die Löwen in beutereichen Tagen hemmungslos vermehren. Das würde die Beutetiere schließlich stark dezimieren. Als Folge würden sich für die Löwen Hungerjahre anschließen. Wenn die meisten Löwen dann verhungert wären, könnten sich die Beutetiere wieder stark vermehren. „Das Revierverhalten wirkt jedoch der Überbevölkerung [der Löwen] gleichsam durch ein Opfer an Fortpflanzungspotential entgegen und verhindert dadurch instabile Schwankungen der Bevölkerungsdichte.“ (Hassenstein 2001, S. 293). Der Besitz eines Reviers stellt sich also als sowohl ökonomisch wie auch ökologisch sinnvoll heraus. Wir können vermuten, dass bereits Jäger- und Sammlergruppen über ein von ihnen beanspruchtes Revier verfügen, dessen Grenzen gegen Eindringlinge gesichert und gelegentlich auch nach außen verschoben werden.

Das Auftauchen der Götter

Aber wie kann man sein Territorium kennzeichnen und die Legitimität seiner Ansprüche belegen, wenn es noch kein Grundbuchamt gibt? Wenn schon nicht der Himmel helfen kann, dann doch wenigstens die Ahnen. Man verweist auf „ein legitimes Erbe und zwar durch einen Hinweis auf die Vorfahren, die das Land bereits vor Generationen in Besitz genommen hatten.“ (Wunn et al. 2015, S. 56). Neandertaler (letzter Nachweis vermutlich ca. 40.000 v.H.) wie auch der H. sapiens haben zur selben frühen Zeit ihre Toten bestattet und dies an Orten, die sie auch immer wieder als Wohnplatz genutzt haben. Die Bewohner der ersten festen Siedlungen (z.B. in Ain Ghazal und Tell es-Sultan ca. 11.000 v.H.) bestatten ihre Toten sogar unter dem Fußboden ihrer Wohnhäuser (Wunn et al. 2015, S. 104 ff.). Dabei kommt es gelegentlich zu einem seltsamen Brauch: Man trennt den Schädel ab und deponiert ihn an einem sichtbaren Platz. Anthropologen vermuten, dass die Bewohner damit ihren Anspruch auf das Territorium unterstreichen wollen. Der Anthropologe Roy Rapperport zeigt für die Epo und Tzembaga Neuguineas, dass diese ihre Territorien noch in der Neuzeit durch Schädeldeponierungen markieren (Wunn et al. 2015, S. 59). Damit einher gehen erste vage Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tod und von einer jenseitigen Welt, in der die Ahnen leben und von wo aus sie in die reale Welt hineinwirken können.

Unser Gehirn ist stets auf der Suche nach Ursachen. Und also vermuten wir, so wir keine andere Erklärung finden können, dass beängstigende Phänomene einen ebenso beängstigenden Verursacher haben müssen, der sich jeweils verantwortlich zeichnet. Damit ist die Idee von übernatürlichen Mächten naheliegend. Einmal erdacht, übernehmen wir Ängste vor übernatürlichen Wesen durch soziales Referenzieren: Fürchte dich vor Schlangen, wenn deine Artgenossen sich vor Schlangen fürchten, fürchte dich vor Dämonen und Wiedergängern, wenn deine Nachbarn das auch tut.

Die Ahnen bieten nun Schutz im Austausch von Trank- und Weiheopfern. Wer einmal in Mexiko den Día de los Muertos erlebt, wird erstaunt zur Kenntnis nehmen, wie lebendig ein solcher Kult noch heute und in einer (zwangs-)christianisierten modernen Welt fortexistiert. Mexikaner ziehen an diesem Tag auf den Friedhof und feiern mit ihren Toten, wobei die Toten mit ihren Lieblingsspeisen und -getränken bewirtet werden. Auch die Heiligenverehrung im Christentum ist eine Art Ahnenkult, deren Reliquien, also die Überreste der verstorbenen Heiliggesprochenen, bis heute in Kirchen verehrt werden und um deren Schutz gefleht wird.

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Mit der Zeit ergänzten oder ersetzten künstlerische Portraits der Schädel mit leeren Augenhöhlen und aufgerissenen Mäuler die Totenschädel. Anthropologisch gedeutet werden die leeren Augenhöhlen als Drohstarren und die aufgerissenen Mäuler als drohendes Zähneblecken, beides, um Eindringlinge abzuschrecken. In diesen bildlichen Darstellungen werden die Persönlichkeiten und die Wirkkräfte der Verstorbenen als vergegenwärtigt gedacht. Neben dem Anspruch auf das Territorium, dass die Ahnen durch ihre Präsenz untermauern und neben ihrer abschreckenden Wirkung auf Konkurrenten, bietet der Ahnenkult auch Hilfe bei der Bewältigung der Trauer über den erfahrenen Verlust und eine Abschwächung der eigenen Angst vor der Auslöschung. „Über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelten sich also aus der Praxis der Schädeldeponierung ein Geschehen mit festgelegtem und erweitertem Bedeutungsinhalt.“ (Wunn et al. 2015, S. 104).

Territoriale Ansprüche erlangen eine weitaus größere Bedeutung, als Menschen von der aneignenden Jäger- und Sammlerkultur zur produzierenden Wirtschaftsweise der Landwirtschaft und der Viehzucht übergehen. Territorialität wird spätestens mit dem Beginn der Landwirtschaft und der Viehzucht essenziell für diejenigen, die sie betreiben. Gleichzeitig kommt es zu einer Anhäufung von Besitztümern bei den Bauern und diese können gewaltsam geraubt werden – Ernteerträge, Vieh, Kleidung, Schmuck, Kultgegenstände, Waffen. Das führt vermutlich zu einer Zunahme von Gewalttätigkeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die frühen bäuerlichen Gemeinschaften reagieren auf diese Auseinandersetzungen mit der Heroisierung von aggressiven männlichen Gestalten. Der kriegerische Mann ist spätestens dann als Held gefragt, als sich Stadtstaaten mit Königen an der Spitze bekriegen und um die Vorherrschaft kämpfen. So kann aus dem Ahnenkult allmählich hausbeschützende Geister und schließlich im Spiegel der diesseitigen Elite eine jenseitige Elite – Götter – hervorgehen. Beides vermischt sich: Nicht selten werden die frühen Helden von den Göttern gezeugt und nach genügend vielen Heldentaten in den Himmel erhoben, worauf selbst die Bibel verweist: „Da sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren, und nahmen sich zu Frauen, welche sie wollten. […] Denn als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten.“ (1.Mose6.2-4, Lutherbibel 2017). Herkules, der wohl bekannteste Held des Altertums, ist der Sohn des Zeus, seine Mutter die schöne Alkmene. Nach reichlich heroisch bestandenen Abenteuern wird er in den Himmel versetzt und erstrahlt fortan als Sternenbild.

Als dann die ersten Herrscher von Großreichen für sich beanspruchen, Garanten für den wehrhaften Schutz und die Ernte zu sein und damit den Platz der Ahnen einnehmen, beanspruchen sie für sich gleichzeitig die den Ahnen zuerkannten Eigenschaften und Fähigkeiten, oder treten gar als Götter auf. Qin Shihuangdi (259–210 v. Chr.), Gründer des chinesischen Kaiserreichs, Arahitogami, die japanischen Kaiser oder die Sapa Inka, die Herrscher der Inkas, lassen sich, wie auch die ägyptischen Pharaonen, allesamt als Gottkönige verehrten (anthrowiki.at). Ihre Macht gründet damit auch auf dem göttlichen Prestige, also auf der Bereitschaft der Menschen, Ahnen zu verehren und Götter anzubeten. Der japanische Kaiser oder besser: „Tennō“ erklärt erst mit der japanischen Kapitulation zum Ende des 2. Weltkrieges am 1. Januar 1946, auf Druck der Amerikaner, über das Radio seinem Volk, dass er keineswegs göttlich sei. Das alles scheint noch nicht viel mit Moral zu tun zu haben. Aber sehen wir weiter!

Der frühe Gott der Christen

Der spätere Gott der Christenheit startete als Hausgott eines nomadischen Patriarchen und noch Jakob, Sohn des Isaaks und Enkel Abrahams stellt seine Bedingungen, ehe er diesen Gott als den seinen annehmen würde, wobei er Schutz gegen Opfergaben rechnet: „Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Wege, den ich gehe, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich in Frieden zurückkehre zum Hause meines Vaters, so soll Jehova mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Denkmal aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes sein; und von allem, was du mir geben wirst, werde ich dir gewisslich den Zehnten geben.“ (1.Mose28.20-22, Elberfelder Bibel 1905). Und es ist durchaus nicht so, dass nicht auch andere Götter im Angebot gewesen seien, was die Israeliten auch immer wieder nutzen: „Und die Kinder Israel taten, was böse war in den Augen Jehovas und vergaßen Jehovas, ihres Gottes, und sie dienten den Baalim und den Ascheroth.“ (z.B. Richter2.7, Elberfelder Bibel 1905). Hier geht es also schon darum, das Konformität eingefordert und Abweichungen vom rechten Glauben als böse eingestuft wird.

Es ist sowieso erstaunlich, wie offensichtlich die Bibel in ihren Anfängen sowohl die Evolution wie auch die Lebensweise der nomadischen Viehzüchter reflektiert. Gott gibt Adam und Eva schon im Paradies das Gebot: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan.“ Später verspricht er Abraham, seinen Kindern und Kindeskindern große Fruchtbarkeit (1.Mose1.28 bzw. 17.6, Lutherbibel 2017). Die alttestamentarischen ersten Erzählungen der Bibel sind „so sehr mit Fortpflanzung und dem, was Fortpflanzung bedroht, beschäftigt, dass sie fast alles andere in menschlicher Erfahrung ausschließt.“ (Miles 1998, S. 113). Zumindest bis zur Josephsgeschichte ist die Genesis eine Erzählung, die fast ausschließlich von Unfruchtbarkeit, Schwangerschaft, Geburt, Masturbation, Verführung, Vergewaltigung, Gattinnenmord, Brudermord, Kindesmord handelt.

Die christliche Lehre spricht häufig von der Liebe Gottes und seiner moralischen Unfehlbarkeit, aber „seltsamer Weise ist Gott kein Heiliger.“ (Miles 1998, S. 17). Die weiteren Segnungen, die dieser Gott des Alten Testaments in Aussicht stellt, sind geprägt von dem, was eine Pastoralkultur ausmacht. Pastoralismus leitet sich vom lateinischen „pastor“ für „Hirte“ ab und meint „eine Form der Landnutzung mit extensiver Weidewirtschaft auf natürlich gewachsenem Busch- und Grasland, dessen anderweitige Nutzung wegen der klimatischen Bedingungen, seiner kargen Vegetation oder seiner Abgelegenheit nicht attraktiv oder nicht sinnvoll ist.“ (dewiki.de). Der Schwachpunkt des Pastoralismus ist, dass es „eine Welt voller Viehdiebe und Plünderer“ ist (Sapolsky 2017, S 369).

Gott verspricht seinem Volk, so man ihn exklusiv anbete, Beutegut, die Früchte der Arbeit derer, die von ihrem Land vertrieben, versklavt oder gleich umgebracht werden: „Wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land bringt, das er deinen Vätern, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen hat, dir zu geben: große und gute Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser voll von allem Guten, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Zisternen, die du nicht ausgehauen hast, Weinberge und Olivenbäume, die du nicht gepflanzt hast, und wenn du dann essen und satt werden wirst, so hüte dich, dass du den HERRN ja nicht vergisst, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus.“ (5Mose6.10-12, Elberfelder Bibel 1905). Soweit zur evolutionären Entwicklung dieses Softgen-Komplexes, nun zu einem der wichtigsten Aspekte seiner Nützlichkeit.

Ein weiteres göttliches Arbeitsfeld

Tatsächlich spielen Kulte in der Konkurrenz zwischen Gruppen (Gruppenselektion) eine herausragende Rolle: Sie stärken den Zusammenhalt nach innen und fördern die Kampfkraft gegenüber Rivalen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Spiritualität und Religiosität die Menschheit über einen langen Zeitraum hinweg begleitet haben.

In übersichtlichen Stammesgesellschaften, wo jeder mehr oder weniger jeden kennt, überwachen sich die Stammesangehörigen bezüglich der Einhaltung ihrer moralischen Gesetze gegenseitig: „Beobachtete Leute sind nette Leute.“ (Weber 2019). Klatsch und Tratsch tut ein Übriges. In komplexen sozialen Strukturen funktioniert die gegenseitige Kontrolle nicht mehr ganz so gut und es bedarf nun einer zusätzlichen Macht, um die Einhaltung von Regeln zu garantieren. In einfachen Stammesgesellschaften gibt es eher Geister und Dämonen, die für unerklärliche Naturphänomene verantwortlich zeichnen und Ahnen, die das Territorium bewachen und beschützen. In großen unübersichtlichen Gesellschaften mutieren diese nun zu allwissenden und strafenden Göttern, „die selbst die Gedanken der Menschen erkunden können und Fehlverhalten sogar noch nach dem Tode bestrafen. Das leisten nicht nur die Götter der Christen und Muslime, sondern funktioniert auch über das Karma-Prinzip der Buddhisten: Wer ein böses Leben führt, hat die Folgen im nächsten Leben zu tragen.“ (Weber 2019). Ara Norenzayan von der University of British Columbia spricht von der „Übernatürlichen Überwachungshypothese.“ Denn wer Strafe im Jenseits fürchtet, verhält sich zu Lebzeiten eher anständig. – Damit werden Religionen endgültig dafür zuständig, einen moralischen Standard zu festigen und gleichzeitig zu einer der wichtigsten Stützen der Konformität. Glaubensvorstellungen gelten als unantastbar und als jenseits des normalen weltlichen Verstandes angesiedelt. Einher damit geht die Unverrückbarkeit moralischer Normen, auf deren Einhaltung die Gottheit pocht.

Der Übergang von einer diesseitigen Staatsgewalt zu einem im Jenseits strafenden Gott und anders herum verläuft fast stufenlos: Götter greifen direkt in die Geschicke der Menschen ein, wie uns z.B. die Epen des Homer erzählen. Und auch das Alte Testament spricht über das direkte Eingreifen des Herrn. Z.B. sendet Gott zehn Plagen, um den Pharao dazu zu bringen, das Volk Israel ziehen zu lassen (2Mose7, Elberfelder Bibel 1905). Anders herum reklamieren Herrscher für sich göttliche Kräfte und fälschen gewissermaßen die Unterschrift ihrer Götter: Im Codex Hammurabi, der vielleicht ersten niedergeschriebenen Gesetzessammlung der Welt, behauptet der babylonische Herrscher, die Gesetze seien ihm vom Gott Marduk übergeben worden. Auch Moses bekommt die Gesetzestafeln mit den 10 Geboten von seinem Gott auf der wolkenverhangenen Bergspitze des Berges Sinai übergeben. Priester etablieren sich als Mittler zu den Göttern. In römischen Zeiten, so schreibt Edward Gibbon, haben sich Priester der Germanen „in weltlichen Angelegenheiten eine Gerichtsbarkeit angemaßt, welche die eigentliche Obrigkeit nicht auszuüben wagte.“ (Gibbon 2006, S. 12). Selbst noch im Mittelalter wurde das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als heiliges Reich Gottes aufgefasst, „das die Sittlichkeit des Menschen zu verwalten, zu fördern und zu perfektionieren hatte […]“ (Sauer 2023, S. 208)..

Um einen übernatürlichen Überwachungsstaat zu etablieren und über Generationen beizubehalten, waren starke konformistische Kräfte notwendig. Als ein Beispiel für konformistischen Druck sei noch einmal die Inquisition der katholischen Kirche genannt, die jegliche Abweichung brandmarkt und die vom rechten Glauben Abgefallenen als Ketzer ausmerzt.

Wie George Orwells 1948 in seinem Roman „1984“ eindrücklich darstellte, ist es auch für jede Diktatur essenziell, das „Volk“ bestmöglich zu überwachen. In der ehemaligen DDR, wo Gott per Dekret mehr oder weniger abgeschafft ist, tritt an dessen Stelle die Stasi, die für das Gefühl der permanenten Beobachtung sorgt, in der ehemaligen UdSSR ist es der KGB. Im heutigen China etabliert sich gerade ein Überwachungsstaat, der auf KI beruht und sich ebenso unentrinnbar gebärdet, wie einst die Gottheiten.

Als ein Beispiel für konformistischen Druck sei noch einmal die Inquisition der katholischen Kirche genannt, die jegliche Abweichung brandmarkte und die vom rechten Glauben Abgefallenen als Ketzer ausmerzte.

 

Gott und Gruppenselektion

Religionen (und Ideologien) vermögen, wie kaum etwas anderes, Menschen über ein gemeinsam geteiltes Weltbild für ein gemeinsames Ziel zu begeistern. Wer das Buch „Der Jüdische Krieg“ von Jusefus gelesen hat, begreift, welches machtvolle Instrument der Kriegsführung ein SoftGen wie der Monotheismus darstellt. Als das auserwählte Volk ihres Gottes kämpfen die Juden buchstäblich bis zur fast völligen Vernichtung. Und so ist es das, was Religion wohl am stärksten mit der Evolution verbindet: die schrankenlose Kampfmoral, die in den Gläubigen heranreift, wenn sie sich einerseits vor der ewigen Verdammnis fürchten und andererseits den Tod nicht scheuen, weil sie hoffen, in ein Himmelreich zu gelangen.

Religiösen Konformismus finden wir auch heute in fast jeder Kriegszone: Im Nahen Osten verläuft die Kampflinie entlang des Judentums auf der einen, des Islams auf der anderen Seite, innerislamische Konflikte entzünden sich u.a. zwischen Sunniten und Schiiten. Im Himalaja liegen sich das muslimische Pakistan und das hinduistische Indien kampfbereit gegenüber, in Myanmar werden die muslimischen Rohingya von der buddhistischen Volksmehrheit vertrieben, in China die ebenfalls überwiegend muslimischen Uiguren in Lagern umerzogen. Und nicht zuletzt ist der Konflikt zwischen den Katholiken der irländischen Republik und den protestantischen Einwohnern Nordirlands ein Problem gewesen, dass in den Brexit-Verhandlungen kaum zu lösen ist. Wie erschreckend gut religiöser Fanatismus auch heute noch wirkt, demonstrieren Terroristengruppen wie Al Kaida oder der IS mit ihren Selbstmordattentätern. In Afghanistan scheiteren zunächst die Sowjetunion und dann die Amerikaner, denn auch dort, zumindest bei den Taliban, ist Gott „der unübertroffene Kraftverstärker.“ (Joffe 2020).

Da diese Konflikte überall auftauchen, sind sie nicht an bestimmte Religionen gebunden, sondern an ein dahinterliegendes Prinzip und dasselbe Muster taucht auch in den Konflikten zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus oder innerhalb kommunistischer Gruppierungen auf. Letztlich geht es um die Konkurrenz zwischen SoftGenen, die ähnliche Aufgaben erfüllen. Auf der Ebene der Gene konkurrieren vor allem Allele gegeneinander. Auf der Ebene der SoftGene konkurrieren dann wohl vor allem SoftAllele, die denselben Platz bzw. dieselbe Aufgabe im Gehirn ausfüllen: Es darf keinen Gott neben meinem geben.

SoftGene und die Wahrheit

Die hier vorgestellte SoftGen-Theorie bietet einige Ansätze zur Lösung wichtiger philosophischer Fragen. Die Frage nach den Kategorien „Gut“ und „Böse“ können wir bereits als Bewertungen moralischer Standards identifizieren. Es geht dabei um Verhaltensweisen, die notwendige Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben in einer Gemeinschaft ermöglichen. Dabei sind diese Kategorien schon in unserem Gefühlshaushalt angelegt, also entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Allerdings sind sie kontextabhängig, was ihre konkrete Ausformung als moralische Standards angeht.

Hier nun einige weitere Vorschläge: Fitness ist letztlich die Vorhersage, welche Lösungen vorteilhaft für das Überleben und die Reproduktion sind. Aber Überleben ist nie sicher vorhersehbar. Leben müssen wir das Leben vorwärts, ob wir richtige oder falsche Entscheidungen getroffen haben, wissen wir aber erst – wenn überhaupt – im Nachhinein. Die Evolution bietet uns keine abstrakten Wahrheiten, sondern nur Lösungen nach Notwendigkeit oder Nützlichkeit. Erkenntnisse müssen uns befähigen, uns in der Welt zurechtzufinden. Handeln nach Vernunft, beziehungsweise Rationalität, und wie wir diese von der Unvernunft, beziehungsweise Irrationalität, abgrenzen können, geht aber nur auf der Grundlage einer angenommenen „Wahrheit“. Diese angenommenen „Gewissheiten“ müssen letztlich immer dem Praxistest des „survival of the fittest“ bestehen.

„Wahrheit“ ist immer situativ, so wie die Anpassung an die Umwelt immer nur situativ sein kann. Und diese Wahrheiten unterliegen meist einer Art Fuzzylogik – einer wenig fassbaren Eindeutigkeit: Die Unsicherheiten können darauf beruhen, dass die Ausgangssituation zu komplex ist, dass sie künftige Ereignisse betreffen, die wir aber gar nicht vorhersagen können und auch, dass wir selber nicht genau wissen, was wir genau meinen, wenn wir von etwas reden. Bei dieser evolutionär basierten Logik gilt nur: „wahrscheinlich wahr“ oder „wahrscheinlich falsch“ mit einem immer wieder neu zu justierenden Wert für die Wahrscheinlichkeit des Überlebens der Gene und der SoftGene.

Ärgerlicher noch: Die Evolution ist kein Ingenieur mit Rechenschieber und Zollstock, der auf einem weißen Blatt Papier Geniales entwirft, „Vielmehr seien wir die Produkte eines Bastlers, der verschiedenste Ersatzteile in seinem Schuppen zusammenbastelt.“ (Röcker 2021). Wir kennen aus der Evolution der Gene Altlasten, die aus unserer Stammesgeschichte folgen: Weil unsere Luftröhre von der Speiseröhre abzweigt, laufen wir Gefahr, uns beim Essen zu verschlucken, oder gar zu ersticken. Wirbelsäule und Kniegelenke sind verschleißanfällig – ein Tribut an den aufrechten Gang. Ähnliche „mangelhafte“ Lösungen müssen wir auch für die SoftGene annehmen.

Wahrheit und Weltbild

Die Frage nach der Wahrheit beschäftigt die Menschen und damit insbesondere auch die Philosophen schon sehr lange, schon die klassischen Philosophen wie Platon oder Aristoteles haben sich damit auseinandergesetzt. Evidenz – das dem Augenschein nach unbezweifelbar Erkennbare – mag einen Aspekt des Wahrheitsbegriffes sein. Wahrheit im Falle der Evidenz ist unmittelbar aus sich heraus zu erkennen und bedarf keiner weiteren Beweisführung. Einen vielleicht ganz ähnlichen Ansatz verfolgt die „Korrespondenztheorie der Wahrheit“. Nach dieser Theorie wird etwas als wahr angenommen, wenn es mit seinem Gegenstand in der Welt übereinstimmt. In einer weiteren Theorie, der „Kohärenztheorie der Wahrheit“ wird etwas als wahr angenommen, wenn es zu dem bereits vorhandenen System an angenommenen Wahrheiten passt, die sich gegenseitig stützen. Dieser Wahrheitsbegriff passt gut zur Mathematik oder der Physik, die streng aufeinander aufbauen.

Was nun kann die Theorie der SoftGene zum Wahrheitsbegriff beitragen? Der Trieb, zu erkunden, neugierig zu sein, zu explorieren, findet sich bei allen höheren Lebewesen. Wir Menschen werden mit dem inneren Drang geboren, herauszufinden, wie alles funktioniert, unser Gehirn sucht stetig nach Erklärungen. Dabei erweitern wir unser Wissen und unsere Fähigkeiten kontinuierlich, ganz nebenbei und selbstverständlich. Durch das stete Hinzulernen entwickelt und verfestigt sich unser inneres Weltbild, das als weitgehend widerspruchsfrei empfunden wird. Neue Erkenntnisse werden in dieses Weltbild eingepflegt und erweitern dieses ständig. Unsere Anschauung über die Welt muss weder rational sein noch zwingend die Wirklichkeit abbilden. Wir können unsere Weltbilder als eine gehirnbasierte Software-Umgebung betrachten, in die stetig neue Informationen und Applikationen (Apps) eingepflegt werden. Apps sind in diesem Zusammenhang Fertigkeiten, die wir erwerben, wie das Laufen lernen, Klavier spielen, oder sozial erwünschte Verhaltensweisen. Eine Analogie dazu finden wir in der Welt der Informatik unter dem Begriff Kompatibilität. In einer Windows-Betriebssystemumgebung laufen keine Programme, die für einen Apple-Computer geschrieben wurden, Dokumente lassen sich nicht ohne Weiteres aus der Softwareumgebung eines Windows-Rechners in die Softwareumgebung eines Apple-Computers übertragen. Auch in unserem Gehirn laufen nur Applikationen, die irgendwie in unser Betriebssystem passen und die kompatibel mit unserem Weltbild sind.

Wahrheit und Glaube

Es gibt keine Institution wie z.B. eine Religion oder eine Ideologie, die uns die ultimative Wahrheit verkünden könnte. Vor allem die im Jenseitigen angesiedelten Wahrheitskonstrukte verzichten in aller Regel ganz auf erfahrbare Wirklichkeiten und lassen gleichzeitig Wahrheiten außerhalb der eigenen transzendenten Glaubensinhalten nicht gelten, auch wenn es der größte Hokuspokus ist, den sie vertreten. Religionen und Ideologien stehen im Dienste der Gruppenselektion und sind häufig sakrosankt, sie werden durch Konformismus erzwungen. Im Sinne dieser Gruppenselektion hat die Wahrheit eine praktische Bedeutung: Wahrheit wird zum Marker der eigenen Gemeinschaft – wir glauben in einer Gemeinschaft alle dasselbe. Die wahrhaftige, aber im Grunde vor allem konformistische Wahrheit steht im Gegensatz zur Lüge und „fake news“, die die Anderen glauben und verbreiten. Leider sind solche Wahrheiten oft die Grundlage unseres Weltbildes.

Unser Weltbild ist unser individuelles SoftGenom, das wir erben, durch eigene Erfahrungen erweitern und aus unserem sozialen Umfeld übernehmen. Dabei gilt: Wahrheit ist, was mit meinem Weltbild übereinstimmt und wir teilen sie mit unserer sozialen Umwelt – die Trennung zwischen Fakten und Meinungen ist dabei häufig nur eine Illusion. Das „soziale Referenzieren“ hatten wir schon bei den Küken kennengelernt. Bei uns Menschen geht das soziale Referenzieren noch viel tiefer. Unsere Ansichten über die Welt, unser gesamtes Weltbild basiert letztlich darauf, dass wir den Erzählungen unserer Eltern, Lehrer und unseres sozialen Umfelds Glauben schenken – und nicht zuletzt denen unserer Eliten und religiöser Autoritäten. Für unsere wichtigsten Überzeugungen „haben wir keinerlei Belege, außer dass Menschen, die wir mögen und denen wir vertrauen, diese Überzeugungen teilen.“ (Kahneman 2011, S.259). Weil wir „Fakten“ vor allem von glaubwürdigen Mitmenschen übernehmen und sie „glauben“, ist „Glaubwürdigkeit“ ein zentrales Thema für unser Leben.

Es sollte uns daher nicht überraschen, dass wir auch jede Form von „fake news“ übernehmen, solange sie in unser Weltsicht passen und aus für uns glaubwürdigen Quellen stammen. Selbst unsere „Fakten“ sind weit weniger absolut wahr, als wir glauben möchten: Sogar solche naturwissenschaftlichen „Gewissheiten“, wie dass das Universum vor ungefähr 13,8 Mrd. Jahren entstanden ist, dass sich die Erde um die Sonne bewegt und nicht die Sonne um die Erde, dass wir eine Vireninfektion haben, wenn uns die Nase läuft und wir Fieber haben und dass kein Zeus die Blitze wirft, sondern es sich um elektrische Entladungen in Regenwolken handelt, können wir nicht selbst überprüfen, wir müssen es einfach glauben.

Für die menschliche Moral gilt – sie ist nicht absolut gesetzt, sondern stets kontextabhängig. Wir verurteilen nicht Gewalt, sondern wir verurteilen Gewalt im falschen Kontext. Normen, die in der eigenen Gemeinschaft unbedingt einzuhalten sind, als wahr und richtig gelten, wie „Du sollst nicht töten!“, sind bis zu einem gewisse Gerade genetisch angelegt. Leider aber werden Mord, Totschlag, Raub und Vergewaltigung dort wahrscheinlicher, wo die eigene Gemeinschaft endet. Im Alten Testament wurden Mord und Vergewaltigung sogar göttliches Gebot: „So bringt nun alles Männliche unter den Kindern um, und bringt alle Frauen um, die einen Mann im Beischlaf erkannt haben! Aber alle Kinder, alle Mädchen, die den Beischlaf eines Mannes nicht gekannt haben, lasst für euch am Leben!“ (4.Mose31.17f., Elberfelder Bibel 1905). Selbst der Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki gilt nicht als schändlicher Massenmord an Zivilisten auf Befehl eines amerikanischen Präsidenten, sondern weithin als notwendige patriotische Tat. Dieses Bonmot soll auf den Biologen Jean Rostand zurückgehen: „Töte einen Menschen, und du bist ein Mörder. Töte Millionen Menschen, und du bist ein Eroberer. Töte alle, und du bist ein Gott.“ (Pinker, 2014, S. 215).

Die Weltbilder in einer Gemeinschaft sind eher einheitlich – z. B. in Bezug auf die Religion – und sie gehören zum Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält. „Wahrheit war und ist für menschliche Gehirne […] viel weniger relevant als Zugehörigkeit und Geborgenheit.“ (Blume 2020 (2), S. 23). Die Kehrseite dieser geglaubten Wahrheitsfindung ist: Fakten, die von Fremden und Feinden stammen, lehnen wir eher ab, insbesondere, wenn sie im Konflikt zu unseren eigenen Überzeugungen stehen.

Besondere SoftGene

SoftGene sind also keiner wie immer gearteten „Wahrheit“ verpflichtet, sie müssen vielmehr ihren evolutionären Zweck erfüllen. Das führt nicht zwangsläufig zu optimalen oder gar „wahren“ Lösungen. Und so, wie unser Körper nicht immer optimal „konstruiert“ ist, ist auch unser Weltbild in erster Linie Bastelwerk. Dazu kommt, dass ein Grundprinzip der Evolution die Variation ist: Es existieren oft eine Reihe von verschiedenen Vorschlägen zur Lösung desselben Problems, wobei nie sicher ist, welche Variation sich durchsetzen wird. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Entwicklung von Autos: Ist es sinnvoller, batteriebetriebene Fahrzeuge zu bauen oder welche, die mit Wasserstoff angetrieben werden? Niemand kennt darauf die Antwort.

Unser Denken ist in aller Regel wertend, denn es dient der Handlungsplanung. Für die Handlungsplanung müssen wir verschiedene Szenarien gegeneinander abwägen können. Die Bewertung der verschiedenen Optionen erfolgt in der Regel in unserem Unterbewusstsein über Gefühle. Aber dort, wo wir Gesetzmäßigkeiten aufgrund von Kausalitäten finden können, ist die Ratio die Königin einer Entscheidungsfindung. Wir Menschen haben uns über die gesamte Erde ausbreiten können und sind so zahlreich wie sonst keine Spezies dieser Größenordnung. Diesen genetischen Erfolg haben wir in erster Linie den Naturwissenschaften zu verdanken. Mathematik, Physik, Chemie und Biologie und die daraus abgeleitete Technik haben uns gesünder und langlebiger werden lassen und das Leben für die meisten von uns ist deutlich leichter geworden.

Unsere Erkenntnisse über Naturgesetze sind eine besonders wertvolle Klasse von SoftGenen, weil sie uns verlässliche Hinweise über unsere Umwelt liefern und damit die besten Anpassungen an die Umwelt erlauben. Bei den Naturwissenschaften geht es um die Fakten, die bei Beobachtungen und Experimenten gesammelt werden. Es geht um den Zusammenhang zwischen diesen Fakten und die Formalisierung der Zusammenhänge in mathematisch gefasste Gesetze, bezogen auf eine äußere Welt. Unser Gehirn ist dafür ausgelegt, Kausalitäten nicht nur nachzuvollziehen, sondern sie auch in mathematische Formen zu fassen, und sie logisch als „wahr“ zu klassifizieren. Unser Geist ist fähig zum logischen Denken, weil die inhärente Logik unserer physischen Umwelt diese Anpassung erzwingt. Wer die Fähigkeit zum logischen Denken mitbringt, ist in einer Umwelt, die physikalischen Gesetzen gehorcht, klar im Vorteil: Nur ein solches Wesen kann selbst den Weltraum erobern – und sich gegen Gefahren aus dem Weltraum, z.B. gegen Asteroideneinschläge, schützen – etwas, was die Dinosaurier nicht vermochten.

Überall auf der Welt studieren die Menschen dieselben Naturwissenschaften. Sie werden kulturübergreifend und über alle nationalen Grenzen hinweg als wahr anerkannt, weil sie zuverlässig unsere Erwartungen erfüllen. Ihre Vorhersagen treffen mit hoher Präzision ein. Wir können auf der Grundlage der uns bekannten physikalischen Gesetze und unseres technischen Know-hows eine Mondrakete bauen und sie wird mit verblüffender Genauigkeit ihr Ziel erreichen.

Die Umwelt rational zu analysieren, sie wissenschaftlich zu untersuchen, schafft zwar nicht unbedingt absolute wahres Wissen. Aber wissenschaftlich erforschte Zusammenhänge haben die Nase vorn, weil sie reproduzierbar und damit verlässlich extrapolierbar sind. Wissenschaft versetzt uns in die Lage, unsere Handlungen rational zu planen und damit den Zufällen des Lebens etwas entgegen zu setzen. Das gelingt umso besser, je mehr wir lernen, wissenschaftlich zu denken und danach zu handeln. Da SoftGene „vererbt“ werden, benötigen wir eine entsprechende Bildungspolitik, denn das Beste, was wir unseren Kindern mitgeben könnten, ist ein naturwissenschaftlich basiertes Weltbild. Die Naturwissenschaften über Bildungsanstrengungen als zentralen Bestandteil jeder menschlichen Zivilisation zu implementieren, wäre echter evolutionärer Fortschritt, denn diese SoftGene schaffen nicht nur Wohlstand, sondern auch Frieden.

Wir benötigen nicht lähmende Furcht vor der Zukunft, sondern Optimismus und technischen Fortschritt. Leider sind Fakten weit weniger rational vermittelbar, als wir glauben. Objektive Informationen sind zwar das erste und beste Mittel gegen Ignoranz und Fehlinformationen, aber das genügt oft nicht (Gelitz 2021 (1)). Wir müssen lernen, dass wir die auf Fakten und den Naturwissenschaften basierenden „Wahrheit“ als die besseren SoftGene nicht nur rational, sondern auch emotional attraktiv vermitteln. Erst dann werden wir religiöse Mythen, Verschwörungstheorien und Fake News erfolgreich die Stirn bieten können. Die Naturwissenschaften liefern hierfür mehr als genug Geschichten, wir müssen sie nur gut erzählen.

Eine der besten Geschichten aus der Wissenschaft ist sicherlich die Raumfahrt, die nebenbei bemerkt als weiteres hervorragendes Beispiel für evolutionären kulturellen Fortschritt angeführt werden kann: Basierend auf einer langen Kette von Erfindungen, die aufeinander aufbauen, erschließt sich mit der Raumfahrt für den Menschen eine neue, beinah unbeschränkt große ökologische Nische, in die bisher wohl noch kein anderes Lebewesen vorgedrungen ist.

Die ISS, die Internationale Raumstation ist ein Ort, wo Menschen über alle kulturellen Unterschiede hinweg kooperativ miteinander umgehen. Sie ist nicht nur ein Symbol für den wissenschaftlichen Fortschritt, sondern vor allem ein Symbol für den Weg in eine friedlichere Welt. Astronauten verschiedenster Herkunft schildern ihre Erfahrungen jedenfalls recht ähnlich, wenn sie von ihrem Blick von der ISS auf die Erde erzählen. Es überkommt sie eine „allumfassende Empfindung einer gemeinsamen kollektiven Erfahrung, ein Mensch zu sein.“ (Boeing 2019). Da oben gäbe es „die Anderen“ nicht mehr, wenn man im 15-Minuten-Takt über menschliche Städte fliegt, die sich aus dieser Perspektive mehr ähneln als unterscheiden, sei es in Afrika, Australien oder Indonesien. Der japanische Astronaut Soichi Noguchi formulierte es so: „Wir sind Bürger des Weltalls.“ (Boeing 2019).

Warum braucht es eine SoftGen-Theorie?

Die Antwort lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Wir benötigen eine SoftGen-Theorie, weil sie die Geisteswissenschaften anschlussfähig an die Naturwissenschaften macht.

Wie ausgeführt, ist jede logische oder wissenschaftliche Folgerung nur so gut, wie ihre Voraussetzungen, auf die sie aufbaut. Die Naturwissenschaften verfügen über ein konsistentes und überaus verlässliches Theoriengebäude über die Natur. Im Gegensatz dazu unterliegt die menschliche Kultur scheinbar keinem Regelwerk. Daher entziehen sich menschliche Entscheidungen in einem Kulturraum der Vorhersage. Aber stimmt das wirklich?

Heute sehen wir in den Wissenschaften sich zwei grundlegende Welterklärungskonzepte gegenüberstehen: Das eine basiert auf Evidenz und Logik und der Erforschung unserer Umwelt, dass andere auf der Annahme, dass Kultur und das Wesen des Menschen frei verhandelbar seien.

Die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften kündigt sich spätestens mit dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert an. Er etabliert die Trennung zwischen Mensch und Natur als christliches Dogma in der abendländischen Kultur. Als Unterscheidungsmerkmal gilt ihm die Seele, die dem Menschen, nicht aber dem Tiere eigen sei und ihn zur Krönung der göttlichen Schöpfung mache. Als Nietzsche Gott für tot erklärt, verabschiedet sich die Philosophie weitgehend von einer Seele, aber der menschliche Geist gilt weithin anstelle der Seele als Unterscheidungsmerkmal zum als niedriger angesiedelten Tier. Insbesondere mit einem freien Willen begabt, sei der Mensch nicht als natürliches Phänomen anzusehen, das sich empirisch-wissenschaftlich untersuchen und kausalanalytisch beschreiben lässt, sondern er sei als Mensch mit eigener Substanz im philosophischen Sinne begabt.

Glaubt man Randall Collins, einem US-amerikanischen Soziologen, der immerhin von 2010 bis 2011 Präsident der American Sociological Association ist, so verwerfen die amerikanischen Intellektuellen die Evolutionstheorie heute größtenteils, u.a. wegen „der traditionellen Gegnerschaft zwischen interpretatorischer und positivistischen Herangehensweisen, das heißt, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.“ (Collins 2011, S. 45).

Auch wenn wir den Geisteswissenschaftlern zu Gute halten können, dass sie das Wohl der Menschheit im Augen haben, dass sie um das Gute streiten, oder es ihnen einfach um die Wahrheit geht: Das Schisma von Natur- und Geisteswissenschaften ist nicht nur wissenschaftlich brisant: So beinhalten ein erheblicher Teil der Gesetzesvorlagen des amerikanischen Kongresses – Edward Wilson spricht von der Hälfte der Gesetzesvorlagen – naturwissenschaftliche Komponenten. Und wenn es heute um den Klimawandel geht, geht es auch dabei zu allererst um naturwissenschaftlich basierte Fakten. Aber hier wie da sind Eliten ganz überwiegend geisteswissenschaftlich ausgebildet (Wilson 2000, S. 21). Ein kranker Mann würde sich aufs heftigste wehren, wenn ihn statt eines ausgebildeten Arztes ein Doktor der Literaturwissenschaften heilen wollte. Der kranke Planet Erde kann sich nicht dagegen wehren, dass Menschen an ihm rumkurieren, die kaum Ahnung von seinem physischen Wesen haben.

Kolumnisten, Medienmacher und die Stars der Denkfabriken sind meistens geisteswissenschaftlich geschult und haben eine eher abwehrende Grundhaltung den Naturwissenschaften gegenüber und, wenn überhaupt, nur sehr rudimentäre Kenntnis von diesen Wissenschaften. „Naturforschung gehört normalerweise nicht zur Allgemeinbildung.“ (Bojanowski 2014). Während wir uns mit Wissenslücken über Maler, Dichter oder Komponisten auf jeder Party blamieren, wird es eher mit zustimmendem Schmunzeln kommentiert, wenn wir zugeben, keine Ahnung vom Urknall oder vom Alter des Planetensystems Erde zu haben. Spiegelredakteur Sebastian Hammelehle hält Thomas Nagel für einen „der wichtigsten Philosophen unserer Zeit“, wenn dieser mit Blick auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts den „Siegeszug des naturwissenschaftlichen Weltbildes als einen nur bedingten Akt der Befreiung [sieht]. Es habe dem Menschen erlaubt, sich von den Dogmen der Religion zu lösen – und sich dann zu einem ebenso dogmatischen System entwickelt, wie das die autoritären Religionen des Mittelalters und der Antike waren.“ (Hammelehle 2014).

Unter dem Trommelfeuer solcher geisteswissenschaftlich geschulten Redakteure vergrößert sich die Distanz zwischen Wissenschaft und Bürger, statt zu schrumpfen. Damit verschlechtert sich zwangsläufig das Urteilsvermögen der Bürger zu gesellschaftlich wichtigen Forschungsthemen wie Gentechnik, Klimawandel oder Stammzellforschung: „Die breite Öffentlichkeit bleibt im Hinblick auf wissenschafts- und technologiepolitische Fragen tendenziell unterinformiert“. (Bojanowski 2014). Die Zuspitzung im journalistischen Gewerbe, wo es vornehmlich um Emotionen, weniger aber um Korrektheit geht, untergräbt das wichtigste Gut der Wissenschaft: Glaubwürdigkeit. „Die Glaubwürdigkeit schwindet, wenn Menschen Sachverhalte laufend falsch dargestellt wiederfinden. Und die populistische Angstbefeuerung gefährdet die freiheitlich-demokratische Grundordnung.“ (Krake 2016). Schon der große Philosoph Karl Popper meinte in diesem Sinne: „Ich bin der Überzeugung, dass wir – die Intellektuellen – fast an allem Elend schuld sind, weil wir zu wenig für die intellektuelle Redlichkeit kämpfen.“ (Popper 1971).

Anna Margaretha Horatschek, bis zum Jahr 2018 Lehrstuhlinhaberin für englische Literatur an der Universität Kiel formuliert in einem Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007: „Die heutigen Geisteswissenschaften liefern keine Sinnentwürfe und formulieren kein Zukunftsziel.“ (Horatschek 2007, S. 241). Wenn aber die Geisteswissenschaften nicht die Themen besetzen, die zur Entwicklung eines rationalen Weltbildes beitragen, das als Grundlage die Menschenrechte, Frieden und Wohlstand für alle aufweist und zukunftsfähig ist, fördern sie ungewollt das Gegenteil: Den Rückzug der Vernunft aus der menschlichen Gesellschaft. Mit der Entzauberung des Mystischen ist klar geworden, dass wir selbst es sind, die das Schicksal in den Händen halten. Sich dem Traum von Wissenschaft und Fortschritt zu verweigern, ebnet den Weg in den politischen Populismus, und stößt das Höllentor zum religiösen Fundamentalismus weit auf.

Marx und Engels stellen fest: Die Naturwissenschaften hätten „eine enorme Tätigkeit entwickelt und sich ein stets wachsendes Material angeeignet. Die Philosophie ist ihnen indessen ebenso fremd geblieben, wie sie der Philosophie fremd blieben.“ (MEW 40, 543). Und das gilt beileibe nicht nur für die Philosophie. Wenn wir den Fortschritte der Sozialwissenschaften mit z.B. denen der Mediziner vergleichen, sehen wir einen überaus dynamischen Fortschritt in der Heilkunst und nur sehr mäßige Fortschritte in den Sozialwissenschaften. Edward Wilson führt das auf den Grad der Vernetzung zurück: Während die Medizin eine globale Wissensgemeinde mit regem Austausch ist, die sich mit Virologen, Epidemiologen, Neurobiologen oder Molekulargenetikern bestens verständigen können, und zu deren Grundverständnis die Chemie genauso gehört wie die Biologie, ist der Vernetzungsgrad in den Humanwissenschaften eher gering und des Öfteren von bitteren ideologischen Streitigkeiten überschattet. Selbst untereinander sind „Anthropologen, Ökonomen, Soziologen und Politwissenschaftler […] in aller Regel nicht imstande, einander zu verstehen oder gar zu ermutigen.“ (Wilson 2000, S. 244). – Mit der SoftGen-Theorie als Grundlage würde sich genau das ändern.

Epilog

Darwin stellte den Menschen in eine Entwicklungsreihe mit unseren Ahnen aus dem Tierreich. Der Mensch ist ausgestattet mit ähnlichen Genen, Organen und Gehirnen, wie sie mindestens bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen zu finden sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Ethologie, aus der Psychologie und aus der Hirnforschung zeigen: Der Mensch ist auch geistig gesehen kein Alien auf dieser Welt. Aus Sicht der Biologie hat sich unser Geist zusammen mit dem Körper in einem evolutionären Prozess entwickelt. Der Entwicklungsprozess lässt sich bis zu den Anfängen des Lebens zurückverfolgen. Wir sind sowohl von unserer Entwicklung her, als auch durch die Umwelt, die uns umgibt, in ein großes Ganzes, in die Natur dieses Planeten eingebettet. Diese Einbindung zwingt uns dazu, einzugestehen, dass sowohl unsere körperlichen Merkmale wie auch unsere Verhaltensweisen und damit letztendlich auch unsere Kultur der Evolution unterliegen. Es ist zu bezweifeln, ob wir valide soziologische Schlüsse ziehen können, ohne die dahinter liegende biologische Conditio humana des Menschen zu verstehen. Darüber hinaus ergeben sich durch das Zusammendenken von Natur- und Kulturwissenschaften eine Fülle von Synergien.

Und diese Auffassung setzt sich allmählich durch: Der deutsche Philosoph und Max-Planck-Forschungspreisträger Wolfgang Welsch schreibt 2003 im Nachwort zu seinem erstmals 1990 erschienenen Werk „Ästhetisches Denken“: „Wenn es hingegen gelingt – oder geboten ist -, den Menschen grundlegend als weltverbundenes Wesen aufzufassen, dann verändert sich alles. Dann steht der Mensch nicht zuerst autonom der Welt gegenüber, sondern ist längst durch sie geprägt. Und dann ist unsere Erfahrung eine der Weisen, in denen die Welt zum Bewusstsein kommt. Den Menschen so zu sehen, ist auf dem heutigen Stand durch unser Wissen um die Evolution geboten. Es nötigt zu einer radikalen Revision der gewohnten Anthropologie und Epistemologie.“ (Welsch 2003. S. 226).

Seit Wolfgang Welsch dieses schrieb, hat sich in diese Richtung vieles bewegt, nicht zuletzt deswegen, weil Gentechnik und Hirnforschung naturwissenschaftliche Grundlagen schufen, auf die kulturwissenschaftliche Fragen aufbauen können: In der Neurophilosophie werden die Beziehung zwischen Gehirnprozessen und mentalen Phänomenen erforscht: Hierbei werden sowohl Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft als auch aus der Philosophie genutzt, um beispielsweise Fragen zur Willensfreiheit oder zum Bewusstsein zu untersuchen. In der Psychologie werden biologische Grundlagen des Verhaltens mit sozialen und kulturellen Faktoren kombiniert, um menschliches Verhalten zu untersuchen. Die Sprachwissenschaft kombiniert Erkenntnisse aus der Linguistik mit neurobiologischen Erkenntnissen, um die Sprachentwicklung und Sprachverarbeitung zu untersuchen. Und nicht zuletzt ist die Klima- und Zukunftsforschung heute interdisziplinär – Um den Klimawandel zu bewältigen benötigen wir neue Technologien, was in das Fachgebiet der Ingenieure fällt. Politiker müssen den Umbau der Wirtschaft politisch forcieren, Juristen müssen mithelfen, internationale Verträge zu verhandeln, denn das Problem ist nur global zu lösen. Wirtschaftswissenschaftler müssen Wege aufzeigen, wie der Umbau der Wirtschaft zu finanzieren ist, die Liste ist viel länger und nicht zuletzt müssen die Soziologen uns den Weg weisen, den weg in diese Zukunft menschlich zu gestalten

 

Aber eine Idee, was Natur und Kultur im Innersten zusammenhält, fehlt bisher – das vorliegende Buch kann diese Lücke vielleicht schließen.