Das Paradoxon vom Schwarzen Raben

Alle Raben sind schwarz

Das Paradoxon vom „Schwarzen Raben“ beleuchtet ein oft auftauchendes Missverständnis auf der formallogischen Ebene: Angenommen, wir möchten beweisen, dass alle Raben schwarz sind. Dafür steht uns prinzipiell nur die Möglichkeit zur Verfügung, alle Raben der Erde zu finden und dabei zu gucken, ob nicht doch ein „nichtschwarzer“ Rabe dabei ist. Es dürfte unmöglich sein, alle Raben tatsächlich zu finden. Wir müssen also mit Wahrscheinlichkeiten vorlieb nehmen: Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Raben schwarz sind, wächst mit jedem schwarzen Raben, den wir finden. Je mehr wir suchen und schwarze Rabe dabei finden, desto wahrscheinlicher wird die Aussage: „Alle Raben sind schwarz.“ So weit, so gut.

Es gibt nun eine formallogisch äquivalente Aussage mit demselben Wahrheitsgehalt. Sie lautet: „Alles, was nicht schwarz ist, darf kein Rabe sein.“ Also zum Beispiel: Kein weißer Vogel darf ein Rabe sein. Auch kein weißes Kaninchen darf ein Rabe sein – denn das Kaninchen ist ja weiß! Das ist eindeutig richtig. Wo kämen wir da auch hin. Leider geraten wir hier genau dahin, wo wir besser nicht sein sollten. Denn nun sieht es so aus: Wir können zu Hause bleiben, alle nichtschwarzen Sachen untersuchen, die wir im Hause finden und die sicherlich keine Raben sind. Mit jedem Gegenstand, den wir ansehen (nicht schwarz / kein Rabe) wächst die Wahrscheinlichkeit, dass alle Raben schwarz sind – formallogisch betrachtet.

Mathematiker sprechen in diesem Zusammenhang von Mächtigkeiten verschiedener (potentiell unendlicher) Mengen. Während die Raben höchstens abzählbar unendlich viele sind (und natürlich sind es erheblich weniger), sind alle anderen Gegenstände so viel mehr, eben nicht abzählbar. Abzählbar unendlich bedeutet, dass wir jedem Raben eindeutig eine natürliche Zahl zuordnen können, wir sie durchzählen können. Das sieht bei allen Dingen, die nicht schwarz sind und keine Raben ganz anders aus! Beispiele für grundverschiedene Mächtigkeiten (vielleicht nicht immer im streng mathematischer Hinsicht) wäre die Anzahl der Informationen im Universum gegenüber den Informationen, die für unser Leben von Bedeutung sind, oder die Anzahl der negativen Mutationen von Genen gegenüber der Anzahl der positiven in der Evolution.

Der Witz an diesem Paradoxon ist, das es erstaunlich häufig vorkommt und Aussagen, die daran geknüpft sind, plausibel erscheinen lassen, aber schlicht Unfug sind. Ein Beispiel aus der Philosophie, nachgelesen in: „Der Mensch als Tier“; 2022 von Markus Gabriel: „Die US-amerikanische Philosophin hat vor geschlagen, den liberalen Pluralismus („ein jeder soll nach seiner Fasson selig werden“) als eine Suche nach dem Sinn im Leben aufzufassen. Dieser kann für jeden anders ausfallen.“ „Der Sinn im Leben kann für jeden anders ausfallen“ ist eine dieser Aussagen: „Alles was nicht schwarz ist, darf kein Raabe sein.“ Denn Sinn im Lebens kann eben nicht für jeden gänzlich anders ausfallen – pathologische Fälle mal ausgeklammert – dafür sind sich die Menschen als Ganzes viel zu ähnlich. Die Bandbreite der „seligmachenden Sinne“ sind ebenso eingeengt wie unser Sinn für Schönheit, Liebe, Wohlbefinden und Glück. Niemand wir sein Glück darin finden, in einen Hundehaufen zu treten – Auftrag an die Leser: „Finde hunderttausend andere Beispiele dafür, was uns nicht als Sinn im Leben erfüllen wird.“

Man weiß ja heute nicht mehr so recht, ob nicht schon der Satz: „Alle Raben sind schwarz“ als rassistisch gegenüber Amsel, Drossel, Fink und Star aufgefasst wird. Aber das Paradoxon hat tatsächlich viel mit Rassismus und Identitätspolitik zu tun. Unterschiede (nicht schwarz / kein Rabe) lassen sich prinzipiell in unendlicher Vielfalt konstruieren. Es gibt unendlich viele Unterschiede, und die meisten davon sind völlig belanglos. Worauf es wirklich ankommt, sind immer die positiven Mutationen, die bedeutungstragenden Informationen, die Gemeinsamkeiten. Es ist sinnvoll sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, weil diese überschaubar sind und Erkenntnissen bringen. Es sind nicht die Unterschiede zwischen Gesellschaften, die wir auf unsere Biologie, auf das menschliche Genom zurückführen können, sondern ihre Gemeinsamkeiten. Die Universalien der menschlichen Kulturen zeigen das deutlich. Die Ähnlichkeiten der menschlichen Gesellschaften sind bedeutsamer als die Abweichungen und es erstaunt, dass es so viele Gemeinsamkeiten gibt. Ein weißes Handtuch, auch wenn es formallogisch richtig ist, bringt dahingegen keine Erkenntnisse in Bezug auf die Frage, ob alle Raben schwarz sind.

© Peter-Paul Manzel