Gedanken zu einem rationaleren Gottesbild

Das afghanischen Taliban-Regime ist besiegt, der Schuttberg der World-Trade-Center-Gebäude wird allmählich kleiner und Präsident G. Bush sieht sich nach neuen Terroristennestern um, die es noch auszuräuchern gilt. Es erscheint in der Tat verführerisch, den Terrorismus mit den überlegenden Waffen der westlichen Kultur auszuradieren und wieder zur Tagesordnung überzugehen. Eine Problemlösung ist diese Waffengewalt wahrscheinlich aber nicht und echte Lösungen scheinen mir nicht einmal im Blickfeld der Politiker: Denn zu einer Problemlösung gehört zunächst das Benennen der Probleme.

Ich möchte hier nicht als derjenige auftreten, der die Lösung für die Weltgeißel Terrorismus kennt, wohl aber die Aufmerksamkeit auf einen Themenkreis lenken, der, wenn nicht zentral für den Terrorismus selbst, so doch immerhin im Mittelpunkt der Gedanken der Täter stand: Die Täter trieb eine religiöse Überhitzung der Gemüter an. Sie erhofften sich ganz schlicht eine pralle Belohnung in einem Himmelreich, dass u.a. mit 70 Jungfrauen aufwartet, die Honig reichen. Die Absurdität solcher Vorstellungen müssen nicht weiter kommentiert werden, wohl aber, warum niemand sich traut, die Religion der Täter als Nährboden des Terrorismus zu benennen. Meiner Ansicht nach gibt es dafür vornehmlich diesen Grund: Herr Bush möchte nicht Steine aus dem Glashaus werfen. Wenn wir die Geschichte der USA betrachten, sehen wir am Anfang der Besiedlung Amerikas durch den weißen Mann eine Menge religiöse Eiferer (z.B. die Pilgerväter) stehen. Dieser Fanatismus hat sich latent bis heute gehalten und er steht dem Terrorismus durchaus nahe: In den Vereinigten Staaten werden immer wieder Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, bedroht und sogar ermordet. Fundamentale religiöse Traditionen sind in den USA fest verwurzelt und besitzt erheblichen gesellschaftlichen Einfluss: Im Staate Kansas durfte, bis eine höhere Gerichtsinstanz dagegen einschritt, an einigen Schulen zum Thema »Entstehung der Welt« nur noch die Genesis, nicht aber die Entstehung der Arten nach Darwin gelehrt werden.

Der Anspruch auf Wahrheit gehört zum Begriff der Kirche und mehr oder weniger zu jeder Religion, reklamiert der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann die Wahrheit für sich. (Welt am Sonntag 2000, 19.9. S. 38) Aber können wir Institutionen, die in ihrer Geschichte Hexenverbrennungen (Christentum) verzeichnen oder aktuell zu Selbstmordattentaten aufrufen, diesen Status wirklich zueignen? Und wenn nicht, wo können wir dann nach der Wahrheit fahnden? Joschka Fischer betont in einem Interview des Spiegels vom 21.1.02 (S. 40), dass alle Länder vor der Herausforderung der Moderne stehen und diese nur bewältigen werden, wenn die dort Herrschen die modernen Grundwerte akzeptieren: »..denn eine wissensgetriebene Gesellschaft – egal ob islamisch, buddhistisch oder christlich begründet […] – setzt kreative Geister voraus. Die brauchen aber Freiheit, eine Freiheit, die sich auf die Unverletzlichkeit der Menschenrechte stützt.« Wenn Joschka Fischer hier auf einen Gegensatz hinweist, dann sieht er die Unverletzlichkeit der Menschenrechte offensichtlich grade nicht in der Tradition der großen Religionen stehen, sondern als Ausfluss unserer modernen Gesellschaft entstanden.

Die Grundpfeiler unserer »wissensgetriebenen Gesellschaft« sind unzweifelhaft die modernen Naturwissenschaften. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse werden wie kaum etwas sonst kulturübergreifend als gültig angesehen, weil sie auf der Vernunft der Menschen gründen. Und damit, denke ich, ist ihre Anwartschaft auf Wahrheit weit mehr gerechtfertigt als bei irgendeinem anderen Wertesystem. Aber können wir auch so etwas wie Moral oder gar transzendente Fragestellungen mit unserer reinen Vernunft bzw. auf der Grundlage der Naturwissenschaften erkennen oder herleiten? Kant folgert wohl noch: nein! Der Begründer der Soziobiologie und Nobelpreisträger Edward Wilson meint zu Immanuel Kant lapidar: Seine Texte wären auch deswegen so schwer verständlich, nicht weil sie tiefgründig seien, sondern weil er einfach irrt: Wie wir heute wissen, stimmt [Immanuel Kants] Aussage nicht mit den Nachweisen über die Funktionsweise des Gehirns überein. (Wilson 2000, S. 332). Frank Tipler widerlegt in seinem Buch »Die Physik der Unsterblichkeit« Immanuel Kant, dass die drei Grundprobleme der Metaphysik von der Wissenschaft nie und nimmer zu lösen seien: »Gott«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit«.

Basierend auch auf diesem Buch habe ich eine Art neues Evangelium (Evangelium bedeutet: »frohe Botschaft«) verfasst, in dem ich das Wissen über die Entstehung der Welt, die Entwicklung der Moral und schließlich auch die Frage nach Gott auf der Basis der Naturwissenschaften zusammengetragen und miteinander verknüpft habe. Das Buch schlägt einen Bogen von der Kosmologie über die Biologie und endet schließlich in einer wissenschaftlich begründetet Theorie über Gott. Wir wissen heute weitgehend, wie das Universum entstanden ist, denn wir leben in einer Welt mit festen Regeln, in einem Kosmos. (Kosmos mein: „Rechtsgemeinschaft der Dinge“). Die griechischen Philosophen des Altertums hatten recht: Das Universum hat sich nicht als Chaos, sondern nach festen Regeln entwickelt, bis schließlich wir auf einem Planeten in einem unbedeutenden Arm der Milchstraße auftauchten und anfingen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen.

Wenn der Kosmos so einfach aufgebaut ist, dass wir verstehen können, wie er funktioniert, dann sollten wir auch den Versuch unternehmen, seinen letztendlichen Sinn zu enträtseln. Noch vor 100 Jahren glaubten die Wissenschaftler, dass die Sonne nicht länger als 50 000 Jahre glühen könnte, weil man sie sich aus Eisen bestehend vorstellte. Niemand wusste etwas über das gewaltige Ausmaß des Universums oder den Fremdartigkeiten der Quantenwelt. Es war nicht bekannt, dass die Kontinente sich gegeneinander verschieben und damit Erdbeben und Vulkanausbrüche auslösen. Niemand konnte sagen, wie sich Merkmale von Lebewesen von den Eltern auf die Kinder übertrugen. Abraham Trembley (1710 bis 1784) war der Überzeugung, dass man zunächst die Biologie verbessern, weiter entwickeln müsse, ehe man die allgemeineren oder gar metaphysischen Fragen angehen könne. Vielleicht ist diese Zeit nun gekommen, da es den Biologen gelungen ist, das Genom eines Menschen zu kartieren. Denn zweifellos benötigen wir nicht nur das Wissen über die Gene, sondern auch das Wissen darüber, was wir damit anfangen können und vor allem dürfen.

Betrachten wir zunächst die Entwicklung der Moral, eine bisherige Kernkompetenz von Religionen oder der Philosophie. Woher sollte Moral tatsächlich kommen, wenn nicht aus unserer ureigensten Natur? Nach den Erkenntnissen der Soziobiologie sieht die Sache recht einfach aus: Aus unserem menschlichen Sein folgt unser moralisches Sein. Wir sind moralisch, weil uns die Natur genetische Anlagen mitgegeben hat, die uns dazu bringen uns moralisch zu verhalten. Moral ist nicht eine Trumpfkarte des menschlichen Geistes über die Natur sondern die seiner Gene. Diese Gene machen die menschliche Spezies so erfolgreich, weil sie Moral kodieren. Edward Wilson formuliert daraus sein allgemeines empirisches Prinzip: Starke angeborene Gefühle und historische Erfahrungen [die wir als „SoftGene“ kodieren und weitergeben] führen dazu, dass bestimmte Handlungsweisen bevorzugt werden; nachdem wir sie erprobt und ihre Konsequenzen gegeneinander abgewogen haben, sind wir bereit, uns an die entsprechenden Regeln zu halten (Wilson 2000, S. 334).

Es gibt verschiedene Wurzeln der Moral in der Evolution des Menschen: Zunächst ist da die Fürsorge der Mutter für ihre Nachkommen, dann die Kooperation der Geschlechter bei der Aufzucht der Kinder. Weiter lässt sich mathematisch belegen, dass es sich bezogen auf die Vererbung der eigenen Gene auszahlt, Verwandte unter Umständen selbstlos zu unterstützen, da Verwandte weitgehend dieselben genetischen Anlagen haben. Das Gefangenen-Dilemma stammt aus der Spieltheorie. Es ist ein Grundthema in allen Situationen, in denen Mitglieder einer Gemeinschaft aufeinandertreffen und zwischen Kooperation und Egoismus entscheiden müssen. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass es sich für den Einzelnen unterm Strich lohnt, sich für die Kooperation zu entscheiden. Für eine Gemeinschaft ergibt sich ein Nutzen aus gesellschaftlichen Strukturen, die den Handel ermöglichen und fördern. Wir können das am Gesetz des »Vorteils durch komparative Kosten« belegen: Wenn zwei Individuen, Nationen oder Rassen sich hinsichtlich ihrer relativen Effizienz in der Güterproduktion unterscheiden, werden beide vom wechselseitigen Handel profitieren, selbst wenn der eine alles besser kann als der andere.

Aber nicht nur Moral wird allmählich zu einer Domäne der Biologie und der Wirtschaftswissenschaften. Der Mensch braucht heilige Mythen, Ideen, die ihm über das augenblickliche Sein hinaus einen Sinn vermitteln. Menschen besitzen die Begierde, die letzte Wahrheit erkennen und eine Erklärung für ihre Existenz finden zu wollen. Ich teile mit Edward Wilson die Ansicht, dass der wahre evolutionäre Mythos, poetisch erzählt, ebenso erhaben wie jedes religiöse Epos sei (Wilson 2000, S. 352). Die Wissenschaftler verfügen, so sie sich auf sie besinnen, über viele kraftvolle Mythen. Und sie haben einen reichen Fundus an Themen, die sie in den Dienst der menschlichen Sehnsucht nach Transzendenz stellen können. Wir leben in einem demokratischen Kosmos, in dem alles nach denselben Gesetzen funktioniert und nichts eine besondere Stellung innehat. Es gibt aus physikalischer Sicht auch nur eine einzige Erklärung für diese Welt.

Naheliegend ist dann, dass, wenn es einen Gott gibt, es derselbe Gott für alle ist. Eine Möglichkeit ist, dass Gott aus der Evolution des Lebens im Kosmos entstehen wird, als die höchste Stufe der Komplexität des Lebens im Kosmos. Diese These wird in »Shermers letztem Gesetz« noch weiter überspitzt: Jede hinreichend fortgeschrittene außerirdische Intelligenz ist ununterscheidbar von Gott. Wenn wir unsere eigenen Historie betrachten, so ist diese Idee nicht von der Hand zu weisen: Auch wenn die spanischen Eroberer Amerikas nur über eine etwas höhere Waffentechnologie verfügten, wurden sie von den Eingeborenen möglicher Weise als Götter empfangen. Für einen Beduinen aus der Zeit Jesus Christus wäre ein Zeitreisender unserer Zivilisation sicherlich ein Gott, wäre er mit den heutigen technischen Errungenschaften ausgestattet.

Wenn wir die Rasanz der heutigen technischen Entwicklung betrachten, so hat sich der Fortschritt noch deutlich beschleunigt. Käme ein Zeitreisender 2000 Jahre aus der Zukunft zu uns, so würden wir ihn als noch geheimnisvoller und fortgeschrittener erleben als der historische Beduine uns. Das klingt alles recht phantastisch, aber wie Edwin Powell Hubble formulierte, ist es durchaus legitim, wenn die empirischen Möglichkeiten erschöpft sind, dass wir in das Traumreich der Spekulation ausweichen müssen. Zur Zeit haben wir auf der Erde eine Menge verschiedener Götter, deren Anhänger sich zum Teil erbittert bekämpfen. Nicht zuletzt deswegen bedroht uns das Gespenst des Terrorismus, das aus den Quellen des religiösen Fanatismus entstiegen ist. Wenn wir diese Art von Fanatismus überwinden wollen, müssen wir auch die althergebrachten Theologien überwinden und zu einem rationaleren Gottesbild finden.

Literatur:

MANZEL, P.-P. (2002): Das Evangelium der Naturwissenschaften; Europäischen Verlagsanstalt (EVA)

TIPLER, F.J. (1995): Die Physik der Unsterblichkeit.

WELT AM SONNTAG (2000): Interview mit Karl Lehmann: Wem gehört Jesus, Bischof Lehmann? – Welt am Sonntag 19.9.2000, S. 37-38.

WILSON, E.O. (2000): Die Einheit des Wissens. – München.

© Peter-Paul Manzel

Erschienen in:

BLICKPUNKT ZUKUNFT (Viewpoint Future) ·

Ausgabe 38/39 · April 2002

22. Jahrgang · Seite 11-12. link