Der Artikel ist 1999 erschienen in: 
Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen/Andreas Böttger (1999 Hrsg.):
Jugendgewalt – und kein Ende? Hintergründe – Perspektiven – Gegenstrategien, Hannover.

Kampfkunst und Gewaltprävention
aus der Sicht eines Aikido-Meisters und eines Psychologen.

(Herbert Junk & Peter-Paul Manzel)

 

Einleitung

Gewalt als eines der Merkmale der Evolution begleitet die Menschheit seit Ihrer Entstehung – und aus diesem Blickwinkel erkennt man bereits zwei sehr unterschiedliche Themenbereiche der Selbstbehauptung: Die Verteidigung gegenüber der widrigen Natur, gegenüber Nahrungskonkurrenten oder Raubtieren etwa, und die Selbstbehauptung innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Wehrhaftigkeit zu besitzen, ist für beide Komplexe notwendig.

Im Laufe der menschlichen Entwicklung hat der Mensch sämtliche Nahrungs-Konkurrenten weit hinter sich gelassen und ihm gefährlich werdende Raubtiere (zumindest in den westlichen Ländern) in Zoos verbannt. Übrig geblieben als lebensbedrohende Gegner sind lediglich Bakterien und die sich in die Ordnung der Biologen schlecht einpassenden Viren und – der Mensch selbst. Aus diesem Grund stehen, setzt man sich mit dem Thema Selbstbehauptung und Selbstverteidigung auseinander, heute die zwischenmenschlichen Konflikte im Vordergrund.

Es lohnt sich aber durchaus, diese vorgestellten Gedanken im Blick zu behalten, einerseits weil menschliche Reaktionen auf Gefahr durch die Auseinandersetzung mit der auch feindlichen Natur erworben wurden, die so auf die heutige Umwelt nur noch schlecht passen, andererseits auch bezogen auf unsere übriggebliebenen mikrobiellen Feinde, die wir nicht nur mit der Hilfe der modernen Wissenschaft, insbesondere der Pharmakologie bekämpfen können, sondern auch durch ein starkes und gut funktionierendes Immunsystem.

Was ist Selbstverteidigung?

Bei dem Begriff „Selbstverteidigung“ denkt man wohl zuerst an ein Kampfgeschehen oder an spezielle Kampftechniken, die dazu dienen, den Angriff eines Gegners erfolgreich abzuwenden. Selbstverteidigung ist aber sehr viel differenzierter. Eine Freundin berichtete mir einmal die folgende Geschichte: Am späten Abend war sie auf dem Weg nach Hause. Der Weg war auf der einen Seite mit Häusern bebaut, auf der anderen Seite grenzte ein Park. Während sie auf der Häuserseite ging, wurde sie auf der gegenüberliegenden Parkseite von einem fremden Mann begleitet, der sich etwas hinter ihr ihrem Schrittempo angepaßt hatte und immer zu ihr hinüber schaute. Bei meiner Freundin entstand in dieser sehr unklaren Situation eine Mischung aus Ärger und Angst. Der Ärger überwog schließlich, und ohne nachzudenken blieb sie abrupt stehen, drehte sich zu ihm hin und brüllte ihn an: „Verschwinden sie endlich!“ Der fremde Mann machte einen Satz ins Gebüsch und verschwand, wie ihm geheißen ward. Dieses Beispiel für eine Selbstverteidigungssituation macht einiges deutlich:

  1. Selbstverteidigung ist nicht immer gleichzusetzen mit einer körperlichen Auseinandersetzung oder einem Kampf. (Wie oben angesprochen ist auch die Stärkung des Immunsystems eine Art Selbstverteidigung.)
  2. Man kann sich sogar schon dann bedroht fühlen, wenn noch ein relativ großer Abstand zu einer anderen Person besteht und man kann sich auch über eine größer Distanz schon zur Wehr setzen.
  3. Bedrohung ist häufig subjektiv. Es liegt im eigenen Empfinden, ob ich mich angegriffen fühle oder nicht. Entsprechend muß ich auch entscheiden, wann ich mich zur Wehr setze.

Aber es ist immer möglich, daß eine Situation wie die hier Erzählte in einer körperlichen Auseinandersetzung endet. Dafür gewappnet zu sein – sich effektiv wehren zu können, wenn einer körperlichen Auseinandersetzung nicht mehr aus dem Weg gegangen werden kann – ist eine der häufigsten (und sicherlich auch ehrenhaftesten) Begründungen dafür, daß Menschen Kampfsport zu trainieren beginnen. Hier einige detaillierter ausgeführte Motive:

Verschiedenartige Motive, Kampfsport zu treiben

Meistens sind es spezifische Ängste, die Menschen überlegen lassen, in eine Kampfsport-Schule einzutreten.

  1. Eltern wollen, daß sich ihre Kinder besser schützen können, auf dem Schulweg, auf dem Schulhof, vor Anmache, davor, bestohlen zu werden.
  2. Andere Eltern haben die Vorstellung, daß ihr Kind – ihr Sohn – zu schüchtern, zu weich ist und erhoffen sich von Selbstverteidigungskursen ganz allgemein mehr Selbstbehauptung für ihren Sohn.
  3. Frauen und Mädchen interessieren sich für Selbstverteidigungskurse, weil sie lernen wollen, wie sie sich in brenzligen Situationen verhalten können, um nicht Opfer männlicher Gewalt zu werden.
  4. Generell möchten Menschen wissen, wie sie reagieren können, wenn sie Angriffe zwischen anderen beobachten, was sie tun können, wenn sie Gewaltsituationen auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen, ob und wie sie eingreifen können oder sollen.

Daneben gibt es allerdings auch Menschen, die lernen wollen, wie man selbst effektiv Gewalt ausüben kann, denn Gewalt auszuüben bedeutet, Macht auszuüben! Die Grenze vom „Ich will mich nur wehren können“ bis zum Hooligan ist durchaus fließend, wie man leicht am Punkt 2 der Liste ausführen kann: Denn die Frage ist immer, wann setze ich selbst Gewalt ein: Wenn ich auf die rechte Wange geschlagen wurde? (Diese Frage würde sicher fast jeder mit ja beantworten, auch wenn er sich den christlichen Idealen verpflichte fühlt.) Wenn mich jemand anspuckt? Wenn mich jemand beleidigt? Wenn sich jemand vor mir in die Schlange drängt? Wenn mir jemand dumm kommt? Wenn jemand für die gegnerische Mannschaft brüllt? Und es gibt da noch die unverhältnismäßige Reaktion – etwa auf einen Rempler mit einem gezielten Tritt zum Kopf zu reagieren – die aus dem Verteidiger und Opfer leicht auch einen Täter machen kann.

Daneben tritt noch unser aller ererbter natürliche Hang zur Aggression. Konrad Lorenz (1974) glaubt: „daß der heute Zivilisierte überhaupt unter ungenügendem Abreagieren aggressiver Triebhandlungen leidet …daß die intra-spezifische Selektion dem Menschen in grauer Vorzeit ein Maß von Aggressionstrieb angezüchtet hat, für das er in seiner heutigen Gesellschaftsordnung kein adäquates Ventil findet.“

Daraus folgt, daß man zwei Fallunterscheidungen treffen muß, wenn es um Kampfsport geht. Man muß sowohl die Seite des potentiellen Opfers (pO) als auch die Seite des potentiellen Täters (pT) betrachten:

  • pO: kann ich mich gegebenenfalls verteidigen oder gar Gewalttaten verhindern, wenn ich Selbstverteidigung beherrsche?
  • pT: Trägt Kampfsport zur Brutalisierung bei oder kann er im Gegenteil dazu beitragen, daß ein Mensch erst gar nicht zum Täter wird?

Generell kann man wohl sagen: Je brutaler eine Kampfsportart ist, desto reizvoller ist sie für diejenigen, die Konfliktlösungen durch Gewalt friedlichen Lösungen vorziehen.

Das Kampf-Flucht-Verhalten

Das Kampf-Flucht-Verhalten ist (neben dem Erholungs- Fortpflanzungsverhalten) eines der zwei Grundprogramme des menschlichen Verhaltens. Um in der Natur überleben zu können, sind schnelle und effektive Aktionen erforderlich. Dafür wird der Körper nach einem biologisch fest verankerten Notfallplan von einer Sekunde auf die andere in einem Alarmzustand versetzt.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Steinzeitmensch und liegen nach einem üppigen Mahl in der Sonne auf einem warmen Stein. Sie sind zufrieden und geben sich angenehm entspannt allein Ihrer Verdauungstätigkeit hin. Plötzlich hören Sie ganz in ihrer Nähe das typische Rasseln einer Klapperschlange. Vermutlich sind Sie augenblicklich nicht mehr schläfrig sondern hellwach, Herzschlag und Blutdruck sind erhöht, die Muskeln gespannt, die Augen weit aufgerissen. Mit anderen Worten, Ihr Aktivitätsniveau ist sprunghaft angestiegen. Sie müssen jetzt nur noch entscheiden, was Sie mit der bereitgestellten Energie anfangen wollen. Entweder Sie erschlagen die Schlange mit einem Stock (Kampf) oder Sie nehmen Reißaus (Flucht). Diesen Komplex körperlicher Reaktionen nennen die Psychologen daher Kampf-Flucht-Verhalten.

Dieses Grundprogramm wird über das autonomes Nervensystem und über Hormone gesteuert – wir haben keinen Einfluß darauf. Wir werden gar nicht erst gefragt, ob uns die Klapperschlange erschrecken soll oder nicht. Wir sind innerlich schon im Streß, bevor wir überhaupt begriffen haben, was los ist. Die Streßreaktion mobilisiert unsere gesamten Energiereserven – alle Kraft sollte uneingeschränkt zur Verfügung stehen, alles Störende muß ausgeblendet werden (vgl. SCHERER et al. 1985). Das Herz beginnt schneller und kräftiger zu schlagen. Die Atemfrequenz erhöht sich. Auf der Haut wird Schweiß freigesetzt, einerseits um den Körper zu kühlen, andererseits um die Haut glitschiger zu machen – Gladiatoren wußten, wozu das gut ist. Die Nackenhaare sträuben sich. Für uns Menschen ist das nicht mehr von Bedeutung, aber bei den meisten Tieren ist das Aufrichten des Felles oder des Federkleides immer noch ein probates Mittel, um Gegner einzuschüchtern. Ein Fell mit dem wir uns aufplustern können, haben wir zwar nicht mehr, aber über eine veränderte Körperhaltung können wir sehr wohl versuchen, uns größer und bedrohlicher wirken zu lassen. Man richtet sich auf, hebt das Kinn, drückt die Brust heraus und winkelt die Arme etwas vom Körper ab, schon wirkt man größer und bedrohlicher.

Die Kampf-Flucht-Vorbereitung geht aber noch weiter. Jeder kennt das Gefühl, wenn durch einen Schreck Adrenalin freigesetzt wird. Adrenalinausschüttung ist eine der vielen Veränderungen, mit denen der Körper sich fit macht. Neben Adrenalin werden noch weitere Botenstoffe im Gehirn und im Körper freigesetzt, darunter auch Stoffe, die schmerzunempfindlich machen. Im Augenblick höchster Erregung ist nicht die Zeit, Wunden zu lecken. Es ist bekannt, daß unter Schockeinwirkung selbst schwerste Verletzungen von den Opfern zunächst gar nicht richtig wahrgenommen werden. Dies ist sinnvoll, denn im Augenblick der Gefahr geht es darum, die unmittelbare Bedrohung abzuwenden. Das erhöht die Chance, daß man hinterher überhaupt Zeit zum Jammern hat.

Es ist wichtig zu bedenken, daß diese Reaktion als ein nur kurzfristig andauernder Zustand angelegt ist. Nachdem man ein Raubtier besiegt beziehungsweise erfolgreich abgeschüttelt hat, müssen sich die Körperfunktionen wieder auf einen anderen Zustand einregulieren. Der Streß ist vorbei und wir können uns nun eine kleine Rast gönnen oder uns wieder unserer Verdauung widmen. Was passiert, wenn dieses Zurückregulieren nicht mehr in ausreichendem Maße gelingt und wenn der Körper zu lange oder zu häufig in diesem Alarmzustand verbleibt, sehen wir heute an dem breiten Spektrum psychosomatischer Erkrankungen, die mit Streß in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Kopfschmerzen, Unfruchtbarkeit und viele andere Symptome.

All diese Beschwerden entstehen aber erst aus lang andauerndem Streß. Als kurzfristige Reaktion ist Streß sogar etwas sehr Gesundes. Streß und Bewegung trainieren den Körper und halten uns fit. Problematisch ist, daß heutzutage sehr häufig Streß entsteht, der Körper macht sich für Kampf oder Flucht bereit, aber es gibt keine Möglichkeit, die bereitgestellte Energie abzuarbeiten. Wenn der Computer, an dem ich diesen Text schreibe nicht macht, was ich will, und mich dadurch unter Streß setzt, macht sich mein Körper zum Kampf oder auch zur Flucht bereit. Ich hätte dann zwar manchmal Lust, entweder das Gerät aus dem Fenster zu werfen oder laut brüllend in den Park zu fliehen, aber ich muß diesen Impuls gegen meine Natur unterdrücken.

  • Streß und Gewalt bzw. Kampf hängen also entwicklungsgeschichtlich unmittelbar zusammen. Der „normale“ Streßabbau erfolgte über den Kampf oder über die körperliche Verausgabung durch die Flucht. Diese einfachen Reaktionen sind unserer Gesellschaft nicht mehr adäquat – uns erschreckt kein Raubtier mehr, vor dem wir weglaufen könnten, sondern wir müssen übernächste Woche eine Arbeit abgeben, aber eigentlich können wir es bis dahin gar nicht schaffen. Dann staut sich Streß zu einem Dauerzustand, der sich in Abständen (z. B. samstags neben dem Fußballplatz) in ungerichteter Aggressivität entladen kann. Auch wenn Gewalt sicher nicht monokausal auf unverarbeiteten Streß zu reduzieren ist, hilft gezielter Streßabbau durch sportliche Wettkämpfe, aggressive Grundstimmungen kleinzuhalten und ist damit eine wichtige Strategie zur Gewaltprävention – Kampfsportarten (und mit ihnen die meisten anderen Sportarten, in denen man sich „auspowered“) geben Gelegenheit Streß abzubauen und beugen damit vor, daß aus dem potentiellen Täter ein wirklicher Täter wird.

Wie du mir, so ich dir

Kampf oder Flucht können jeweils sinnvolle Strategien sein, um auf eine Bedrohung zu reagieren, wobei Angst eher Fluchtimpulse stimuliert, Ärger und Streß eher Kampf. Eine notwendige Voraussetzung, sich zu behaupten, ist zu lernen, sich richtig zu entscheiden: Ist es besser ist zu kämpfen, oder besser zu fliehen, denn der Mensch ist in der Lage, Situationen rational zu bewerten.

Im zwischenmenschlichen Bereich gibt es ein anderes, ähnliches Entscheidungsdilemma, das sehr häufig gelöst werden muß: Verhalte ich mich einem Anderen gegenüber feindlich bzw. egoistisch oder verhalte ich mich freundlich bzw. kooperationsbereit? Welche Strategie sich dabei als erfolgreich in der Evolution durchsetzte, kann am Beispiel des Gefangenendilemmas dargestellt werden (Ridley 1997). Das Gefangenendilemma stammt aus der Spieltheorie und geht auf das folgende Gedankenexperiment zurück: Zwei Gefangene, die für dasselbe Delikt angeklagt sind, werden vor die Wahl gestellt, jeweils gegen den anderen auszusagen. Beide vereinbaren – ehe sie in unterschiedliche Zellen gesteckt werden, nichts zu verraten. Und da es ein Spiel ist, verteilten die Mathematiker, die sich als erste intensiv mit den möglichen Entscheidungsalternativen beschäftigten, die folgenden Punkte: Halten sich beide an die Absprache, so kann der Staatsanwalt sie lediglich für längere Zeit in Untersuchungshaft halten. Dann kommen beide aus Mangel an Beweisen frei – ein Freispruch zweiter Klasse, es gibt einen Punkt. Belasten sich beide gegenseitig, werden beide verurteilt (wir befinden uns in einer Spielszene und nicht in der deutschen Rechtsprechung, wo im Zweifel für den Angeklagten gilt). Aber aufgrund von Restzweifeln, wer es nun tatsächlich war, bekommen sie keine so hohe Strafe: es gibt drei Punkte bzw. drei Jahre Haft. Beschuldigt aber der Gefangene A den Gefangenen B und der Gefangene B schweigt, so wird A als Kronzeuge freigelassen (Null Punkte) und B zur Höchststrafe verurteilt (5 Punkte). Die Frage ist also, ob man sich an die Absprache halten (kooperieren) oder den anderen beschuldigen (betrügen) soll? In Tabelle 4 sind die einzelnen Wahlmöglichkeiten und ihre Punkte aufgelistet.

 

 

Die Wissenschaftler fanden für dieses Dilemma zunächst nur die eine Antwort: Die einzig sinnvolle Entscheidung ist, den anderen zu beschuldigen, sich also nicht an die Absprache zu halten! Beschuldigen Sie Ihren Mitgefangenen, so bekommen Sie lediglich drei Jahre, wenn er Sie auch beschuldigt. Schweigt der andere, so werden Sie freigelassen (null Jahre), wenn Sie ihn beschuldigen. Wie immer der andere sich entscheidet, immer stehen Sie besser da, wenn Sie den anderen betrügen. Da Ihr Mitgefangener dieselben Überlegungen anstellt, wird er zum selben Ergebnis kommen und um so dümmer wäre es, zu kooperieren. Die Mathematiker kamen also zunächst zu demselben Ergebnis wie die klassische Evolutionstheorie: Siegen oder zu verlieren, bzw. betrügen statt kooperieren ist die einzige mögliche Strategie.

Diese Lösung des Gefangenendilemmas hatte immerhin fast dreißig Jahre lang Bestand in der Spieltheorie, obwohl es einen ernsthaften Einwand gab: Ließ man zwei Spieler dieses Spiel mehrere Male gegeneinander spielen, so versuchten sie häufig, sich kooperativ zu verhalten. Die klugen Experten zogen den Schluß, daß diese Spieler sich dumm verhalten, daß sie schlichtweg strategisch nicht genug versiert waren.

Robert Axelrod (1984) konnte in seinem berühmt gewordenen Computer-Turnier, in dem er 14 unterschiedliche Programme jeweils 200 Mal gegeneinander spielen ließ zeigen, daß die Strategie „Wie du mir, so ich dir“ (im englischen Original: „Tit-for-Tat“), die der Politologe Anatol Rapoport in ein Computerprogramm umgesetzt hatte, allen anderen evolutionären Strategien überlegen war. Das Spiel wird wie folgt gespielt: Im ersten Zug biete ich Kooperation an, danach wiederhole ich jeweils den Zug, den der andere im Spiel davor gewählt hat. Axelrod erklärte den Erfolg dieser Spielstrategie mit seiner Kombination aus Freundlichkeit, Vergeltung, Vergebung und Klarheit: „Die freundlichen Merkmale des Programms verhindern unnötige Schwierigkeiten. Seine Fähigkeit zur Vergeltung entmutigt den Gegner, sobald er betrügt. Dadurch, daß das Programm vergibt, hilft es, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Und seine Einfachheit erleichtert es dem anderen Spieler, es zu durchschauen, was einer langfristigen Kooperation förderlich ist.“

Interessant ist, daß die menschliche Kultur in einer ihrer größten Religionen diese Entscheidungsstrategie etablierte, nämlich im alttestamentarischen: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Dabei wird heute oft vergessen, daß dieses Gesetz ein Fortschritt gegenüber den sonst üblichen überharten Strafen war. Im kulturellen Kontext dieser vorchristlichen Zeit müßte es eigentlich heißen: „Nicht mehr als ein Auge für ein Auge, nicht mehr als ein Zahn für einen Zahn“. Diese Strategie aus der Spieltheorie läßt sich leicht auf andere zwischenmenschliche Verhaltensweisen übertragen:

  • (pT): Kann ich meine körperliche Überlegenheit dazu ausnutzen, mir zu nehmen oder durchzusetzen, was ich will, oder wird mich das auf die Dauer mehr kosten, als es mir einbringt? Auf den Schulhof bezogen: Nehme ich ihm sein Spielzeug weg oder muß ich mit ihm zusammen spielen?
  • (pO) Ich biete zunächst meine Bereitschaft an zu spielen, spielt mein Gegenüber aber unfair, so muß ich auch in der Lage sein, mit selber Münze heimzuzahlen.

Der Grund, warum die Mathematiker 30 Jahre lang die Strategie: „Betrüge immer“ favorisiert hatten, lag daran, daß sie nicht bedacht hatten, daß man sich im Leben immer zweimal trifft.

Der Wehrlose verliert auf alle Fälle

„Tit for Tat“ ist eine Strategie, die nur in einer sozialen Gemeinschaft erfolgreich sein kann, in der man sich gelegentlich wiedersieht. Ist dies nicht der Fall, so ist die Strategie: „betrüge immer“ die erfolgreichere. Was man aus dem Gefangenendilemma ableiten kann, ist, daß Gewaltprävention immer darauf angewiesen ist, eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen. Muß ein Täter nicht damit rechnen, selbst Opfer zu werden, wird er genau die Strategie verfolgen, die die Mathematiker dreißig Jahre lang favorisiert hatten: Betrüge immer oder im Kontext dieses Aufsatzes: Übe soviel Gewalt bzw. Macht wie möglich aus, um deine Bedürfnisse durchzusetzen. Daher hat jede Gesellschaft Gesetze und eine Staatsgewalt etabliert, um „sozialen Betrügern“ habhaft zu werden und sie zu bestrafen. Letztendlich etabliert sich so zwischen pT und pO immer ein schwebendes Gleichgewicht, daß in starkem Maße von der Fähigkeit der pO abhängt, die Gewaltausbrüche der pT zu parieren.

Bezogen auf Selbstverteidigung bleibt die Frage, wann die Staatsgewalt ausreicht oder gar ausschließlich das Gewaltmonopol innehat und inwieweit an ihre Seite Zivilcourage und Selbstverteidigung treten muß: Wann kann ich „Wie Du mir so ich Dir“ an den Staat delegieren, wann muß ich mich selbst wehren können? (Die Amerikaner, die ihrem Staat nicht weit trauen, bewaffnen sich lieber selbst (und neigen dabei manchmal zu Überreaktionen wie Selbstjustiz) – in Deutschland mit seiner preußischen Vergangenheit und Obrigkeitshörigkeit herrscht dagegen eher ein Mangel an Zivilcourage.) Einige Beispiele dazu:

  1. Prügeleien unter (meist männlichen) Kindern und Jugendlichen,
  2. Gewalt, um verbrecherische Ziele wie Raub oder Rauschgifthandel durchzusetzen,
  3. männliche Gewalt gegen Frauen.

Im ersten Fall ist man oft auf sich selbst gestellt, Funktion dieser Gewalt ist meistens, eine Rangfolge auszufechten oder den Alltagsfrust abzubauen und am ehesten werden diejenigen Opfer, die sich am wenigsten wehren können.

Bei Straftaten (zweiter Fall) steht uns der Staat zur Seite. Zwar gilt es auch hier oft, Zivilcourage zu zeigen um eine Straftat zu vereiteln, aber generell können wir auf die Mithilfe des Staates rechnen.

Im dritten Fall, bei männlicher Gewalt gegen Frauen, hat sich gezeigt, daß die beste Strategie für Frauen ist, sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu wehren.

Es gibt noch einen weiteren Punkt zu beachten: Gewalt auf der richtigen Seite – auf der Seite der Gerechtigkeit –  hat, so schreibt es der Gesetzgeber vor, verhältnismäßig zu sein, sonst verliert sie ihre Legitimation. Der Erwerb der Fähigkeit, sich selbst verteidigen zu können ist eine notwendige Bedingung für Gewaltprävention auf der Seite der pO. Dies ist sozusagen trivial. Bezogen auf Kampfsport muß daher vor allem nach folgendem gefragt werden:

  • Verleitet Kampfsport dazu, unverhältnismäßig zu reagieren (pO)?
  • Brutalisiert Kampfsport durch gegenseitiges Aufrüsten zusätzlich (pO ßàpT)?
  • Macht Kampfsport Täter nur noch gefährlicher (pT)?

Verschiedene Kampfkünste

Die Vielfalt der Kampfsportarten ist heute unübersehbar geworden, vor allem wohl auch aus dem Grund, weil jeder Spitzenmann (oder seltener -frau) in dieser Szene früher oder später meint, seine (ihre) eigene Stilrichtung propagieren zu müssen. Dazu kommt noch das Crash-Kurs-Angebot, das Frauen gegen „männliche Gewalt“ fit machen soll. Diese Kurse sind etwas anders zu betrachten als das übrige Angebot aus der Kampfsportszene.

Hier einige der weiter verbreiteten Kampfsportarten (Top Fighter Magazin 1998)

Name (Herkunft) : Boxen (Europa); Ringen (Europa, Vorderasien); Tai-Chi (China); Capoeira (Brasilien); Judo (Japan); Ju-Jutsu (auch: Jiu-Jutsu) (Japan); Karate-do (Japan); Kung-Fu (Wushu) (ca. 400 Stielrichtungen) (China); Pencak Silat (Indonesien); Nin-Jutsu (Japan); Taekwondo (Korea); Thai-Boxen (Sammelbegriff: Chai-Yut) bekannteste Stielrichtung: Muay Thai) (Thailand); Aikido (Japan).

Erläuterungen

Das Boxen hat in Deutschland lange Zeit ein Schattendasein gefristet, wohl auch, weil es als etwas halbseiden galt (und gilt). Erst in letzter Zeit wurde es durch das Fernsehen gepuscht und ist wieder mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten. Daß Boxen früher einen anderen Stellenwert in der westlichen Welt hatte, sieht man daran, daß es olympische Disziplin wurde (und heute immer noch ist). Obwohl Boxen im Bewußtsein der meisten Jugendlichen lange nicht an eine Kampfkunst wie dem Kung Fu eines Bruce Lee heranreicht, ist sie äußerst effektiv, und genießt auch heute noch in „Schlägerkreisen“ hohes Ansehen. Boxen ist, um einen Begriff aus der Verhaltensbiologie zu entlehnen, als Beschädigungskampf einzuordnen.

Ringen ist im Gegensatz dazu eine klassische Form des Kommentkampfes, als eines Vergleichskampfs, bei dem es nur darum geht, herauszufinden, wer der Stärkere ist. (Ein gutes Beispiel für Kommentkampf ist z. B. auch das in bayrischen Bierzelten beliebte Armdrücken.) Im Ringkampf geht es nicht darum, dem Gegner Leid zuzufügen, dementsprechend gibt es keine Hiebe oder Tritte. Ringen ist etwas aus der Mode gekommen, aber gleichwohl olympisch.

Mit Boxen und Ringen haben wir zwei europäische Kampfsportarten, die in ihren Turnieren die beiden klassischen Rangkampfformen repräsentieren: auf der einen Seite der Kommentkampf Ringen, in dem es nur gelegentlich zu „Unfällen“ kommt, auf der anderen Seite das Boxen, das auf eine lange Tradition von im Ring gestorbenen Kämpfern zurückblicken muß. Bezeichnender Weise sind beide Kampfsportarten lange ausschließliche Domänen der Männer gewesen und auch heute noch gibt es olympisch weder Damenringen noch den Faustkampf zwischen Frauen.

  • Tai-Chi gilt heute weniger als Kampfkunst denn als gesundheitsfördernd, obwohl die Bewegungsabläufe aus den Kampfstilen Chinas abgeleitet sind.
  • Capoeira stammt aus Brasilien und verbindet Akrobatik mit Musik. Partner bewegen sich Mit- und Zueinander und die Grenze zum tänzerischen verwischt grade auch wegen der musikalischen Untermalung. Dies ist sicher eine der elegantesten und fröhlichsten derKampfkünste.
  • Judo wurde um 1880 von J. Kano aus japanischen Vorläufern entwickelt. Es werden ausschließlich Würfe und Haltegriffe geübt. Der Gegner wird auch im Wettkampf nicht verletzt, sondern, ähnlich wie im Ringen ist es das Ziel, den Gegner am Boden zu fixieren. Damit ist Judo als Wettkampf noch am ehesten dem Kommentkampf zuzurechnen.
  • Ju-Jutsu umfaßt Hebel- Schlag- Würge- und Wurftechniken. Sowohl das Judo wie auch das Aikido wurden aus Stilelementen des Ju-Jutsu entwickelt.
  • Karate wurde, von der heute japanischen Insel Okinawa kommend, 1922 in Tokyo von G. Funakoshi eingeführt. Ürsprünglich gab es lediglich die Trainingsformen Kata (Einübung festgelegter Bewegungsabfolgen ohne Übungspartner), heute sind aber Stiele populär, in denen Turniere gekämpft werden. Dabei reicht das Spektrum von berührungsfreien Kämpfen, bei denen jeder Schlag oder Tritt vor dem Körper des Gegners abgebremst wird, über den Halb- bis zum Vollkontakt. Bei letzterem wird wie beim Boxen gekämpft, zusätzlich sind aber auch Tritte erlaubt. Wenn man so will, hat man mit Judo und (Vollkontakt-)Karate das japanische Paar des Komment- und Beschädigungskampfes.
  • Das chinesische Kung-Fu mit seiner unübersehbaren Formenvielfalt war wohl maßgeblich bei der Entwicklung des Karate- beteiligt. (Karate hieß früher nämlich nicht leere Hand sondern chinesische Hand und wurde erst von Funakoshi, dem Mann, der Karate maßgeblich in Japan bekannt machte, aus nationalistischen Motiven heraus umbenannt.) Streng genommen gehört auch das zeitlupenartig ausgeführte Tai-Chi zu den Kung-Fu-Stilarten. Berühmt wurde das Kung-Fu vor allem durch die Eastern-Filme mit Bruce Lee.
  • Pencak Silat, beheimatet in Indonesien, besteht wie das Kung Fu aus vielen Stilarten und gleichfalls war das ursprüngliche Training ein reines Formenüben. In den 70-er Jahren wurde ein Wettkampfstiel kreiert. Pencak Silat ist in Europa, vor allem in den Niederlanden verbreitet.
  • Taekwondo, der sogenannte Fuß-Hand-Weg hat neben seinen koreanischen Wurzel seinen Ursprung auch im japanischen Karate. Auffallend sind aber im Vergleich zum Karate die größeren Anteile an Fußtechniken. Bruchtests, bei denen Bretter oder Dachpfannen zerschlagen werden, sind beliebter Bestandteil jeder Taekwondo-Demonstration. Auch in dieser Kampfsportart gibt es neben dem Formenüben Turnierkämpfe.
  • Thai-Boxen rühmt sich als eine der härtesten Kampfsportarten und ist im Prinzip eine verschärfte Form des europäischen Boxens – es darf aber zusätzlich auch mit den Knien und Füßen getreten werden.
  • Nin-Jutsu geht angeblich auf Kämpfer zurück, die für den Spionage- und Guerilla-Einsatz ausgebildet wurden. Es hat den Ruch des geheimnisvollen, zum Teil auch des Meuchelmördertums. Salopp ausgedrückt erledigten die Ninjas in der japanischen Gesellschaft die Arbeiten, die den Rittern zu „schmutzig“ waren.

 

Beispiel Aikido

Aikido ist die letzte der großen Budo-Sportarten, die in Japan entwickelt wurden. Wie alle anderen Budo-Sportarten schöpfte Morihei Uyeshiba (1883–1969), der Begründer des Aikido, aus den übervollen Quellen der japanischen Kampfkunsttradition. Ähnlich wie das Judo gehen die Ursprünge dabei auf die seit dem 11. Jahrhundert nur innerhalb der Samurai-Familie tradierten Daito-Methode zurück. Diese Variation des Jiu-Jitsu bildete den gesamten Körper als Waffe im Rahmen von Wurf- Schlag- und Hebeltechniken aus und es wurde besonderer Wert auf die Koordination der körperlichen und geistigen Kräfte gelegt.

Die Besonderheit des Aikidos wie des Judos ist, nicht gegen den Angriff anzukämpfen, sondern die Kraft des Angriffs in die eigene Technik des Verteidigens mit einzubeziehen. Dieses Prinzip, so einleuchtend es ist, wenn man die Vorteile erkannt hat, kann durchaus als revolutionär in Bezug auf Kampfkunst angesehen werden. Die Tatsache, daß die Techniken im Aikido nicht in dem Maße Körperkraft erfordert wie in vielen der klassischen Kampfsportarten, bietet gerade auch Frauen eine gute Möglichkeit, eine wirkungsvolle Selbstverteidigung zu erlernen.

Während das Judo aber als Methode der Ertüchtigung der Bevölkerung für das Militär eingesetzt wurde und den Charakter einer Wettkampfsportart erhielt, erfuhr das Aikido seine letztendlich Ausprägung unter dem Eindruck der Niederlage der Japaner im zweiten Weltkrieg. Seitdem entwickelte sich das Aikido – und wie bei jeder lebendigen Strömung entwickelt sich auch das Aikido immer noch weiter – in Richtung einer Sportart, die den gewandelten Werte einer zivilisierten Gesellschaft Rechnung trägt. Okumura, ein hochrangiger japanischer Aikido-Meister drückt dies so aus (zitiert nach WISCHNEWSKI 1969):

„Seit dem 2. Weltkrieg hat sich Aikido radikal geändert: von einer tödlichen Kriegskunst, wo ein Schlag genügte, einen Gegner zu töten, zu einer göttlich inspirierten Form des Trainings.“

Uyeshiba erkannte, daß der wahre Lebenskampf nicht mit einem anderen Menschen sondern mit dem – lapidar ausgedrückt – eigenen inneren Schweinehund – ausgefochten werden muß, um sein ganzes menschliches Potential zu erschließen. Daher glaubte er, daß die Beschäftigung mit Aikido vor allem dazu dienen sollte, den Charakter zu entwickeln. Seinen Vorstellungen nach sollte Aikido in Harmonie mit der Natur stehen, ihr dienen und sie beschützen. Uyeshiba drückte es so aus: „Die Geisteshaltung, für den Frieden aller Menschen in der Welt zu arbeiten, wird im Aikido gebraucht, und nicht die Geisteshaltung von jemandem, der stark sein möchte oder der Gegner schlagen möchte.“ (Dies erinnert durchaus an die „Tit for Tat“ Strategie, zwar Stärke zu besitzen, aber Kooperation anzubieten.)

Die Harmonie drückt sich bildlich in den Bewegungen der Aikido-Techniken aus: Aikido beantwortet nicht einen Angriff mit einer Erwiderung und es wird nicht Kraft gegen Kraft gemessen – letzteres würde zwangsläufig irgendwann zu einer Niederlage führen, denn immer gibt es irgendwo einen, der stärker als ich ist. Ein Angriff wird nicht gestoppt – er darf sich zunächst weiter frei entfalten. Die Techniken des Aikido schließen sich dem Angriff gewissermaßen an, vereinen die Kräfte des Angriffs und die eigenen Kräfte – die Gegensätze sind damit aufgehoben – und der Aikidoka übernimmt über diese doppelte Kraft die Kontrolle.

Ein kluger Einsatz dieser Kräfte ermöglicht, die angreifende Kraft allmählich zu neutralisieren und die Harmonie wieder herzustellen. Das Prinzip der Bewegungen ist dabei einfach: während ein Angriff fast immer gradlinig geführt wird, bestehen im Aikido die Antworten aus kreis- und spiralförmigen Bewegungen: Als würde der Angreifer eine rotierende Platte betreten, wird er von der Zentrifugalkraft der Aikido-Bewegungen nach außen beschleunigt und verliert die Kontrolle über sein Gleichgewicht. Danach wird der Angreifer zu Boden geworfen oder mit einem Armhebel festgesetzt, und dabei so wenig wie möglich verletzt. Daher gibt es weder Schläge noch Tritte.

Aikido hat eine Besonderheit gegenüber den anderen Kampfsportarten (bis vielleicht auf Capoeira) – geübt wird ausschließlich mit einem Partner, und das nicht gegeneinander sonder miteinander. Dieses Einüben einer gemeinsamen Bewegung miteinander prädestiniert Aikido mehr als alle anderen Kampfsportarten, zur Gewaltprävention eingesetzt zu werden – das Miteinander statt Gegeneinander übt neben den Kampftechniken wichtige soziale Kompetenzen ein.

Aikido im Hinblick auf Gewaltprävention

Aikido fördert die Fähigkeiten des pO, auf einen Angriff zu reagieren, minimiert aber gleichzeitig bei pT die Bereitschaft, aktiv Gewalt auszuüben. Für das pO bietet Aikido

  • effektive Techniken der Selbstverteidigung
  • einen facettenreichen Fitneßsport, der das Selbstbewußtsein und Körperbewußtsein stärkt.

Die Besonderheit in Hinblick auf den Mißbrauch von Kampfkunst (pT) ist aber, daß im Aikido

  • keine Techniken (keine Schlag und Tritttechniken) zur effektiveren Gewaltausübung einstudiert werden (wie das im Thai-Boxen der Fall ist)
  • keine Aggressionen eingeübt werden
  • kooperatives Handeln trainiert wird

Diese Eigenschaften machen Aikido zu einer der sinnfälligsten Präventionsoptionen dafür, das es erst gar nicht zur Ausbildung von gewalttätigen Verhaltensmustern (bei Jugendlichen) kommt.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Kampfsportarten

Fitneß

Zunächst ist unbestreitbar, daß alle Kampfkünste schweißtreibend sind, sich im Sinne der körperlichen Fitneß also auf alle Fälle bezahlt machen. Es wird oft übersehen, daß allein schon das neudeutsch genannte Workout (und damit jeder anstrengende Sport) seinen Teil zur Gewaltprävention sowohl bei den potentiellen Tätern wie auch bei den potentiellen Opfern beiträgt. Für pT gilt: Streß wird durch körperliche Anstrengung abgearbeitet, damit schwindet die Kampfbereitschaft und der Drang sich zu entspannen nimmt zu – der Grund für mich, das Kampf-Flucht-Verhalten in den theoretischen Vorspann dieses Aufsatzes zu stellen: Nebenbei wird das Immunsystem gestärkt, was uns gegenüber unseren übriggebliebenen natürlichen Feinden, den Bakterien und Viren Vorteile bringt. Generell wächst das körperliche Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl, was wiederum zufriedener macht und damit Streß aus der Gemeinschaft nimmt. Denn kränkelnde Menschen neigen zur Unzufriedenheit, erhöhen damit den Streß in einer Gemeinschaft und schüren damit auch die Gewaltbereitschaft. Und von jugendlichen Straftätern weiß man, daß sie meistens ein stark gestörtes Selbstwertgefühl besitzen. (Aber natürlich kann Sport nur einen Teil einer Rehabilitation von Tätern darstellen, da Verhaltensdispositionen sich weder monokausal aufbauen noch auf so simple Art wieder verlernt werden.)

Dauerstreß vermindert die Gedächnisleistung und führt damit zu schlechteren Leistungen in der Schule, was zu Frust führt und die Gewaltbereitschaft erhöht – die Römer sagten nicht umsonst: in corpora sana mens sana.

Fitneß ist auf der Seite der pO ebenfalls eine der besten Präventionen gegen Gewalt. Denn Opfer von Gewalt werden eher Menschen mit Opfermentalität. Wer durch seine Körpersprache ausdrücken kann: ich bin stark, wird dagegen wohlweislich in Ruhe gelassen. Selbstverteidigung fängt eben schon viel früher an als bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung, wie in der einleitenden Geschichte dargelegt wurde. (Im Zweifelsfall kann man außerdem schneller weglaufen.)

Turnierkämpfe

In vielen Kampfsportarten wird die Möglichkeit gegeben, Turnierkämpfe abzuhalten. Diese Ritualisierung der Gewalt ist ebenso eine wichtige Art der Gewaltprävention (auf Seiten pT). Generell kann man bis auf wenige Ausnahmen davon ausgehen, daß sehr engagierte Kampfsportler Ihre Kunst nicht mißbrauchen, wahrscheinlich aus diesen drei Gründen:

  • Sie haben mehr als genug Möglichkeiten, ihren Kampf/Flucht-Streß abzuarbeiten.
  • Rangkämpfe werden über den Turnierkampf erledigt
  • körperliches Wohlbefinden und Selbstwertgefühl wachsen.

Partnerübungen

Bei den meisten Kampfsportarten muß man sich während des Trainings mit einem Partner auseinandersetzen. Dies fördert (auf Seiten der pT), weil hier das Prinzip Tit for Tat unmittelbar zutage tritt, die soziale Kompetenz der Kampfsporttreibenden: Bin ich unfair, wird es auch mein Übungspartner sein! Also bleibe ich in aller Regel fair. Aber hierbei gibt es weitreichende Unterschiede in der Methodik der einzelnen Kampfkünste. In einigen Schulen wird, um die Beschädigungskämpfe gewinnen zu können, durchaus Aggressivität gefördert. (Nebenbei gilt dies nicht nur für reine Kampfsportarten. Zu fragen wäre z. B., inwieweit die von einigen Fußballtrainern geforderte Aggressivität im Zweikampfverhalten zur Aggressivität auf den Stadionrängen beiträgt.)

Verhaltenskodex

Bei vielen Kampfkünsten, besonders, wenn sie aus dem fernen Osten stammen, wird ein mehr oder weniger starker moralischer Überbau als Teil der Kampfkunst vermittelt (vgl. Beispiel Aikido). Bei japanischen Kampfsportarten ist dies vor allem das Budo, ein Begriff, der untrennbar mit der japanischen Kriegerkaste, der Samurai, verbunden ist. Dies ist am besten mit dem Rittertum des Mittelalters zu beschreiben: Vom Ritter des Mittelalters ist in Europa, im Gegensatz zu Japan, heute nur der Begriff: „ritterlich“ überkommen, also eine Art Verhaltenskodex. (Die technischen Aspekte des Rittertums, wie das Fechten in Rüstungen mit Breitschwertern sind dagegen weitgehend verloren gegangen.) Ein Ritter mußte an seinen Fähigkeiten, im Kampf zu überleben und an seinen Verhaltensweisen arbeiten. Dies ungefähr meint auch der Begriff Budo: Kampfkunst und Ehrenkodex.

Das ist übrigens durchaus auch im westlichen Boxen nicht anders, wo es den folgenden starken moralischen Aspekt gibt: Man ist sportlich fair, Tiefschläge sind untersagt usw. Ein weiterer positiver Einfluß auf pT, den Kampfsportarten ausüben, ist also zu lernen, sich an Regeln und Grenzen zu halten.

Gewaltausübung

Die letzte hier aufgeführte Gemeinsamkeit über die Kampfsportarten hinweg ist trivialerweise, daß sich alle Kampfsportarten mehr oder minder intensiv damit beschäftigen, wie man einem anderen Menschen Leid zufügt. Das ist die generelle Gemeinsamkeit. Die Art dieser Gewaltanwendung ist aber gleichzeitig das Merkmal, an dem man die verschiedenen Kampfkünste unterscheiden muß: Je brutaler die Kampfsportarten sind, als desto zweifelhafter müssen sie im Sinne der Gewaltprävention (pT) angesehen werden:

Aikido hat wegen seiner friedfertigen Art des Übens (zu unrecht) eher den Nimbus einer brotlosen Kunst, was Selbstverteidigung anlangt, und wird eher von Menschen geübt, die die Ästhetik dieser Kampfkunst schätzen. Hier ist die Gefahr sehr gering, daß diese Kampfkunst mißbräuchlich eingesetzt wird.

Tai-Boxen gilt als eine der härtesten Kampfsportarten und zieht daher auch nur die „ganz harten Jungs“ an, die eher aufrüsten wollen, als Selbstschutz zu erlernen.

Abgrenzendes Kriterium

Ein Kriterium bezüglich der Frage, ob diese Sportart mehr dem Selbstschutz und der Selbstbehauptung (pO) oder mehr der Aufrüstung (pT), um noch mehr Gewalt ausüben zu können, ist vielleicht das folgende: „Wie stark ist die Gewalt in der betreffenden Kampfsportart ritualisiert?“ Dieses Kriterium hat eine einfache Scheidelinie: Auf der „römischen Seite“ des Rubikons stehen diejenigen Kampfsportarten, in denen Techniken studiert werden. Der Rubikon ist dort überschritten, wo körperliche Gewalt tatsächlich eingesetzt wird – dies ist im Boxen sicher der Fall. Thai-Chi kennt weder Partner noch sieht man dieser Kunst überhaupt an, daß sie wirkungsvolle Selbstverteidigungstechniken lehrt, sie wird kaum dazu verführen, sie mal „zum Spaß“ auszuprobieren. Im Judo wird durchaus gekämpft, aber man tut sich gewissermaßen nicht weh: Die Fallschule ermöglicht eine ungefährliche Landung auf dem weichen Mattenboden und Schläge sowie Tritte sind verboten. Im Boxen zielt dagegen das Training fast ausschließlich darauf ab, irgendwann mit seinem Können jemanden (im Ring) auf die Bretter zu schicken. Dasselbe gilt für das Thai-Boxen, wobei hier auch noch getreten werden darf, was die Sache noch weiter brutalisiert. Zur Begründung dieses Kriteriums: „Ritualisierung der Gewalt“ lassen sich folgende Punkte anführen:

  • In allen Kampfsportarten, in denen es Beschädigungskämpfe gibt, wird notwendiger Weise eine Art von Aggression geschürt, damit die Motivation im Kampf stimmt.
  • Gewalt wird legitim – sie ist legitimes Mittel, um zu gewinnen.
  • Gewalt wird (im Training) alltäglich und normal.

Selbstverteidigung für Frauen

Die Angst von Frauen, Opfer einer Vergewaltigung zu werden, ist weit verbreitet und erklärt den Boom von Crash-Kursen zur Selbstverteidigung/-behauptung für Frauen. Diese Kurse haben, wenn sie gut gemacht werden, sicher ihre Berechtigung, da es sich gezeigt hat, daß Gegenwehr hilft. Da diese Kurse meistens nur einige Stunden lang sind, kann hier nur Grundsätzliches gelehrt werden. Ob das ausreicht, genügend Selbstbewußtsein aufzubauen, um sich tatsächlich zu wehren, kann ich nicht abschätzen, aber mir scheint bei diesen Kursen das Aufwand-Ergebnis-Verhältnis als durchaus günstig. Denn jede Frau kann sich wehren, auch wenn sie nie spezielle Techniken einstudiert hat – meistens reicht es aus, sich überhaupt irgendwie zu wehren. Will man sich aber effektiv wehren können, muß man sich entweder bewaffnen oder eine richtige Kampfsportart betreiben. Dafür reicht es wahrscheinlich nicht, zu wissen, daß man einem Mann am besten zwischen die Beine tritt.

Die sportlichen Aspekte ergeben sich bei diesen Kursen natürlich auch nicht – wer fit sein will mit den Vorteilen, die Fit-Sein bringt (verbessertes Körpergefühl, höheres Selbstvertrauen, gesteigerte Selbstwahrnehmung), muß ständig üben.

Resümee: Kampfsport und Jugendgewalt

Jede sportliche Betätigung baut Streß und damit auch Aggression ab und gleichzeitig das Selbstwertgefühl auf. Beides dient in hohem Maße der Gewaltprävention.

Auf der Seite der pO ist die Fähigkeit, sich wehren zu können wichtige Grundlage für das Funktionieren jeder zivilisierten Gemeinschaft. Eine Erhöhung der Wehrhaftigkeit auf dem Schulhof auf Seiten der pO fördert die Bereitschaft zur Zivilcourage und macht Täter vorsichtiger.

Die prinzipielle Einsicht, sich wehren zu können, reicht wahrscheinlich schon in vielen Fällen aus, um sich als Mädchen oder Frau gegen männliche Gewalt erfolgreich zu wehren, was einen Crash-Kurs als Schul-Event- Angebot für Mädchen sinnvoll erscheinen läßt.

Kommentkämpfe wie im Judo sind gerade für Jugendliche eine bewährte Methode, Rangkämpfe in rituelle Bahnen zu lenken und erübrigen die gewaltsame Auseinandersetzung auf dem Schulhof.

Partnerübungen, solange sie nicht Aggressionen fördern, entwickeln die soziale Kompetenz –

sportliche (oder weltanschauliche) Regeln setzen Grenzen – beides sind notwendige Voraussetzungen für adäquates soziales Verhalten. Gerade Problemkindern kann in verantwortungsbewußt geführten Kampfsportschulen geholfen werden, ihre Defizite auf diesen Gebieten aufzuarbeiten.

Dagegen sind überall, wo Beschädigungskämpfe Teil des Trainings sind, Vorbehalte angebracht, daß hier Jugendliche ihre Fähigkeiten zur Gewaltausübung lediglich ausweiten.

 

 

 

Literatur:

AXELROD, R. (1997, 4. Aufl.): Die Evolution der Kooperation Oldenbourg

LORENZ, K. (1974): Das sogenannte Böse. – München

RIDLEY, M. (1997): Die Biologie der Tugend. –Warum es sich lohnt, gut zu sein. – Berlin

WISCHNEWSKI, G. (1969): Aikido. – Falken Bücherei Bd. 0248. – Wiesbaden.

SCHERER, K.R., H.G. WALLBOTT, F.J. TOLKMITT & G. BERGMANN (1985): Die Streßreaktion: Physiologie und Verhalten, Goettingen.

TOP FIGHTER (International Magazin) (1998): Masters & Styles.