„SoftGene – wie die Evolution unsere Kultur hervorbringt.“

Hauptteil V: Grundlegende Aspekte zur Evolutionstheorie

Grundlegende Aspekte zur Evolutionstheorie

Nach diesem etwas längerem Vorspann, der beschreibend aufzeigte, wie ähnlich sich Mensch und Tier in Natur und Kultur sind, möchte ich Sie nun etwas tiefer in die Evolutionstheorie hinein begleiten. Das wird uns erlauben, eine lückenlose logische Abfolge von der Physik über die Biologie bis hin zu unserer Kultur aufzuzeigen. Erst dann wird es möglich, eine Theorie zu formulieren, die die Naturwissenschaften und die Kulturwissenschaften auf ein gemeinsames Fundament stellt.

Ebenso wenig, wie das Leben der Gravitation entkommen kann, kann es der Evolution entkommen. Oder, wie es der russische Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky formulierte: „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn – es sei denn, man betrachtet es im Licht der Evolution.“ Die Evolutionstheorie hat sich seit den bahnbrechenden Arbeiten von Darwin in der Wissenschaft durchgesetzt und ist zur fruchtbarsten naturwissenschaftlichen Theorie herangereift, die wir außerhalb der Physik finden. Ihre außerordentliche erklärende und vorhersagende Kraft macht sie zum zentralen Prinzip der modernen Biologie. „Die Evolutionstheorie verdient unsere Aufmerksamkeit nicht nur, weil sie von überraschender Einfachheit und großer Erklärungskraft ist, sondern vor allem deswegen, weil sie weitreichende wissenschaftliche, philosophische und weltanschauliche Folgen hat.“[1] Darwin hat mit seiner Evolutionstheorie mehr noch als Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei, Isaac Newton oder Albert Einstein unser Weltbild von Grund auf und unumkehrbar verändert.

Der Begriff Evolution wurde 1852 von dem Schriftsteller Herbert Spencer als Synonym für eine „biologische Höherentwicklung“ in die Literatur eingeführt und erst Jahre später von Darwin aufgegriffen. Evolution leitet sich aus dem lateinischen „evolvere“ (ausrollen, entwickeln, oder ablaufen) ab und wir verstehen den Evolutionsprozess heute meistens als Entwicklung der Organismen in der Zeit, hin zu höherer Komplexität.

Darwin ging davon aus, dass „alle heute auf der Erde lebenden und alle ausgestorbenen Lebewesen in allen ihren Abwandlungen von einem einzigen Vorfahren abstammen.“[2] Damit überwand Darwin die bis dahin vorherrschende Ansicht des christlichen Abendlandes, dass die heute lebenden Arten zu einem bestimmten Schöpfungszeitpunkt durch den Schöpfungsakt eines allmächtigen Gottes in die Welt gesetzt worden sind, so wie es die Bibel erzählt. Vielmehr sei der heutige verzweigte Baum der biologischen Arten durch natürliche Auslese oder auch durch das „Überleben des am besten Angepassten“ in kleinen Schritten aus einfachsten Vorfahren entstanden.

Darwins Theorie basiert, kurz gefasst, auf drei einfachen Beobachtungen: Er erkannte erstens, dass offensichtlich alle Organismen eine gewisse Variationsbreite in ihren Eigenschaften besitzen. Des Weiteren folgerte er, dass sich einige Eigenschaften für den Reproduktionserfolg als nützlicher erweisen als andere und dass drittens viele dieser unterschiedlichen Eigenschaften erblich seien. Damit steht die Evolutionstheorie auf den drei Säulen Variation bzw. Mutation, Selektion und Replikation. Replikation bedeutet, dass etwas aus etwas vorherigem hervorgeht und dieser Aspekt wird uns ermöglichen, die Evolution bis auf die einfachsten Moleküle zurück zu verfolgen.

Darwins Ansatz war so elegant, weil er, wie es die Physik vormachte, eine einfache Theorie für eine Vielzahl von beobachtbaren Phänomenen bereitstellte. Sie war im hohen Maß reduktionistisch und vereinheitlichend. Mit der Evolutionstheorie konnte man so unterschiedliche Dinge, wie die Entwicklung der Facettenaugen bei Insekten, das Ultraschall-Echolot der Fledermäuse oder den Balztanz der Kraniche erklären. Und nicht zuletzt fügte sie den Menschen in den Stammbaum des Lebens mit ein. Das hatte überraschende Folgen nicht zuletzt für die Wissenschaft! Denn ab dieser Erkenntnis konnten Mediziner begründet Tiere als Modell für den menschlichen Körper untersuchen. Erst das Wissen über die Ähnlichkeit von Maus und Mensch führte zu den erstaunlichen Erflogen der modernen Medizin. Und auf die Soziologie und unser Verhalten bezogen können wir sagen: „Wenn wir erkennen, was wir mit Tieren gemeinsam haben, können wir besser verstehen, was wir Menschen untereinander gemeinsam haben.“[3]

[1] Buskes 2008, S. 9

[2] Ward 2008, S. 9

[3] Christakis 2019, S. 239

Selektion

Alle heutigen Lebewesen blicken auf eine durchgängige Linie von Vorfahren zurück, bis hin zu LUCA unserem ersten gemeinsamen Vorfahren (Last Universal Common/Cellular Ancestor) vor sicherlich mindestens 3,5 Milliarden Jahren. In der Biologie ist der Begriff „Fitness“ ein Maß für den Fortpflanzungserfolg. Wir können den evolutionären Algorithmus in einer einfachen rekursiven Formel ausdrücken: „Erfolg“ oder Fitness bedeutet in der biologischen Welt, Nachfahren zu haben, die wiederum Erfolg, also Nachkommen haben. Während das Individuum irgendwann stirbt, bedeutet dieser Algorithmus letztlich das Überleben der Gene auf der Keimbahn der Organismen, er bedeutet letztlich potentielle Unsterblichkeit.

Fitness bedeutet nicht unbedingt, möglichst viele Nachkommen zu haben, denn Quantität lässt sich durch Qualität kompensieren. Mehr noch, Quantität ist Ressourcenverschwendung, wenn ein Großteil des Nachwuchses untergeht. Nebenbei bemerkt gibt es aus diesem Grunde auch keine Bevölkerungsexplosion, wie sie der Club of Rome prognostizierte: Je wahrscheinlicher es wurde, dass Kinder so lange überleben, dass sie eigene Familien gründen können, desto weniger Kinder wurden und werden gezeugt.

In der Regel überlebt im Tierreich nur eine Minderheit der Nachkommenschaft bis zur Geschlechtsreife. Einige Individuen werden dabei auf Grund ihrer günstigen Genausstattung mit größerer Wahrscheinlichkeit dieses Alter erreichen, oder einfach auch, weil sie die Glücklicheren sind, als der oft große Rest. Diese können sich fortpflanzen, während die weniger gut Angepassten oder diejenigen, die Pech hatten, aus dem evolutionären Wettbewerb ausgeschieden sind. Fit oder Fitness beschreibt nicht „die körperliche Stärke und Durchsetzungsfähigkeit im Sinne einer direkten Konkurrenzverdrängung unter Einsatz von Gewalt.“[1] Weder das stärkste noch das intelligenteste Individuum gibt zwangsläufig seine Gene in die nächste Generation weiter, sondern einfach dasjenige, das Nachkommen hat. Warum auch immer. Aber natürlich können dabei Stärke und Intelligenz helfen. Die Evolution verfährt nach Versuch und Irrtum. Diejenigen Individuen, die durch die zufällige Veränderung ihrer Gene, also durch Mutation, besser an die herrschenden Umweltbedingungen angepasst sind, haben eine größere Überlebenschance und eine größere Fortpflanzungswahrscheinlichkeit. Die erfolgreichen Versuche werden in den Genen gesammelt und zur Erinnerung abgelegt. So intuitiv der Begriff Fitness auch scheint, darauf weist Dawkins hin, ist Fitness ein Terminus, der selbst innerhalb der Biologie unterschiedlich verwendet wird,[2] der Teufel, wenn er denn existieren würde, steckt auch hier im Detail. Der einfache Grund dafür ist, dass die Zukunft weder berechenbar noch sonst wie sicher vorhersehbar ist. Und damit ist auch nur bedingt vorherbestimmt, wer überleben wird und die Chance erhält, seine Gene weiter zu geben.

Auch wenn das Augenmerk in der Biologie häufig auf den Wandel durch Evolution lag und liegt, dient die Evolution in erster Linie der Erhaltung des Erreichten. Gegenstand der natürlichen Auslese ist vor allem, mangelhafte Exemplare, die durch Mutationen entstanden sind, aus der Vererbungslinie auszuschließen. Denn negative Mutationen treten ständig auf, hilfreiche Mutationen im Sinne einer Steigerung der Fitness sind dagegen rar gesät. Aber es sind diese wenigen „positiven“ Mutationen, die aus der Evolution einen kombinatorischen und konstruktiven Prozess machen, ihr die Fähigkeit verleihen, Neues, nie dagewesenes zu erschaffen. Der Erfolg von Organismen auf lange Sicht hängt „von dem relativ wenigen, sich positiv auswirkenden Mutationen ab, die aus dem weit zahlreicher vorkommenden Mutation mit negativen Auswirkung selektiert werden können.“[3] Letztlich sind Mutationen dann doch „der Motor der Evolution und der Grund dafür, dass sich Mensch und Schimpansen heute einander durch einen Zaun getrennt im Zoo bestaunen.“[4]

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Survival_of_the_Fittest

[2] Dawkins 2018, S. 191 ff.

[3] Krauß 2021, S. 80

[4] Krause 2021, S. 21

Stabilität

Aber noch einmal: Die DNS aktiv zu erhalten und damit die bereits vorhandene Funktionalität zu sichern, ist ein zentrales Problem und höher entwickelte, mehrzellige Organismen lösen dieses Problem vorzugsweise mit Sex. Erbschäden, also Mutationen, die in die Richtung zu weniger Fitness oder sogar zu Krankheit und Siechtum führen, treten zwangsläufig auf. Man rechnet bei jedem neuen Menschenkind mit durchschnittlich ca. 100 neu auftretenden Mutationen,[1] von denen ein beträchtlicher Teil neutral oder sogar schädlich sein dürften – nur ein sehr geringer Anteil der Mutationen hat einen positiven Effekt. Bei Viren zeigte eine Untersuchung, dass die Hälfte der Mutation zum völligen Funktionsverlust führten und nur 4 Prozent für die Reproduktion des Virus vorteilhaft waren.[2] Die Rekombination von Genen vermag nachteilige Mutationen im Erbgut wieder zu entfernen und so den Genpool einer Art mehr oder weniger stabil zu halten. Selektion bei sexueller Fortpflanzung hat also vor allem eine konservative Aufgabe, sie ist auf die Elimination negativer Mutationen ausgerichtet, um die erworbene Funktionalität des Organismus zu erhalten und ist erst in zweiter Linie dafür zuständig, positiven Mutationen im Genpool zu verbreiten. Sex, als einer der zentralen Mechanismen in der Evolution, wirkt sich innerhalb einer Spezies stabilisierend und vereinheitlichend aus mit einer leichten Tendenz zu höherer Fitness. Sex ist für Organismen genügender Komplexität unverzichtbar.

Wie wir sehen werden, wird dieser konservative Aspekt der Evolution auch bei der Evolution von Kulturbausteinen eine wesentliche Rolle spielen und einige wichtige soziologische Aspekte klären können.

[1] vgl. Krauß 2021, S. 80

[2] vgl. Krauß 2021, S. 7

Highspeed

Darwin ging davon aus, dass die Evolution ein schleichender, nicht wahrnehmbarer Prozess sei: „Wir sehen nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis die Hand der Zeit auf eine abgelaufene Weltperiode hindeutet.“[1] Nutztiere und Nutzpflanzen sind allerdings ein Beispiel dafür, dass sich über eine gezielte Selektion Merkmale schnell verändern lassen. Unser Freund auf vier Beinen, der Hund, kommt uns heute als Mops oder Mastino Napoletano bei einem Spaziergang entgegen, von ihrem Aussehen her höchst unterschiedliche Kreaturen. Der Mops wurde vor mehr als 2000 Jahren im Chinesischen Kaiserreich aus doggenähnlichen Hunden herausgezüchtet. Die systematische Zucht der Rasse Mastino aus einer Vorform, dem römischen Kriegshunde Molosser, begann sogar erst 1947. Beides aus evolutionärer Sicht überraschend kurze Zeiträume, die dem planmäßigen menschlichen Zutun geschuldet sind.

Aber Evolution kann auch schnell verlaufen, wenn der Mensch nicht gezielt eingreift: Penicillin wurde das erste Mal im zweiten Weltkrieg in größerem Maßstab gegen das Bakterium Staphylokokkus eingesetzt. Es dauerte nur rund 10 Jahre, bis sich diese Art Bakterium so verändert hatte, dass sie resistent gegen das Medikament wurde. Dies ist ein deutliches Zeichen eines raschen evolutionären Wandels. Im Zeitalter der Schädlings- und Unkrautbekämpfung in der Landwirtschaft ist es heute schon fast Allgemeinwissen, dass die Mittel schnell ihre Wirksamkeit verlieren können, weil sich die Zielorganismen anpassen und resistent gegen die verwendeten Wirkstoffe werden.

Den ersten Hinweis, dass die Evolution auch bei Tieren ohne gezieltes Eingreifen von Seiten des Menschen schnell fortschreiten kann, bemerkten die Biologen beim Birkenspanner (Biston betularia) in den britischen Midlands. Ein Birkenspanner hat normaler Weise helle Flügel, die ihn auf der weißen Rinde einer Birke fast unsichtbar erscheinen lässt. Mitte des 19. Jahrhunderts färbte der Ruß, der mit dem Aufkommen der industriellen Revolution verstärkt aus Schlote ausgestoßen wurde, die Baumstämme der Birken in einigen Regionen Britanniens dunkel. Dort verloren die weißfarbigen Morphen ihre gute Tarnung. Mutationen mit dunkleren Flügeln, die normaler Weise kaum eine Überlebenschance gehabt hätten, waren plötzlich im Vorteil: Diese an die neue Umwelt besser angepassten Falter wurden überraschend schnell zur vorherrschenden Morphe.[2]

Die Stadt als Lebensraum ist eine neue Ökologische Nische die weltweit bis Mitte des 21. Jahrhunderts die Erde dominieren wird – dann werden vermutlich zwei Drittel aller geschätzten 9,3 Milliarden Menschen weltweit in Städten leben. Der Evolutionsbiologe Menno Schilthuizen meint, dort eine beeindruckende Entwicklung entdecken zu haben – die Entstehung neuer Arten im Schnelldurchlauf.[3] Z.B. hat sich in der Londoner U-Bahn eine neue Art Mücke (Culex pipiens molestus) entwickelt, die nur da vorkommt. Sie unterscheidet sich genetisch deutlich von der nah verwandten, oberirdisch lebenden Art (Culex pipiens). Während die oberirdische Art Vogelblut saugt und Winterschlaf hält, fliegt die U-Bahnmücke das ganze Jahr durch und saugt an den reichlich vorkommenden Pendlern. Die Unterschiede zwischen den Arten sind mittlerweile so ausgeprägt, „dass sich zwei jeweilige Exemplare nicht mehr miteinander fortpflanzen können – in der Biologie der klassische Beweis, dass eine neue Art entstanden ist.“[4]

Relativ kurzfristige Genänderungen gab und gibt es auch beim Menschen, der nicht nur in atemberaubender Geschwindigkeit seine Umwelt umgestaltete, sondern sich dann auch an diese neu geschaffene Umwelt anpasste. Ein später ausführlich diskutiertes Beispiel ist dafür die Anpassung an die Viehwirtschaft. Sie begünstigte, vor weniger als 7.500 Jahren, die genetisch fixierte Laktosetoleranz. Sie bewirkte, dass Menschen auch im Erwachsenenalter Milch vertragen.

[1] zitiert nach Losos 2018, S. 127

[2] vgl. Losos 2018, S. 128, ff.

[3] vgl. Blage 2020

[4] Blage 2020