„SoftGene – wie die Evolution unsere Kultur hervorbringt.“

Hauptteil I: Einleitungen

Einleitung I

Letztlich lässt sich jedes Problem der Menschheit auf eine einzige Ressource herunterbrechen: Energie! Das einfachste Leben wie z.B. Blaualgen nutzen die Sonnenenergie zur Photosynthese. Pflanzen nutzen die Sonnenenergie, um ihre verschiedensten chemischen Moleküle – Energiespeicher, Baumateriel usw. – zusammen zu setzen. Tiere fressen Pflanzen und kommen so u.a. an die gespeicherte Energie der Pflanzen und verwenden sie dafür, um zu wachsen, sich Fortzupflanzen oder auch nur, um eine Weile lang ihre Lebensprozesse aufrecht zu erhalten. Wir Menschen essen Pflanzen und Tiere, um an die Moleküle heranzukommen, die Pflanzen und Tiere synthetisiert haben, und wir verwenden sie ähnlich wie die Tiere. Im wesentlichen lässt sich das gesamte Leben auf unserem Planeten auf den Input der Sonnenenergie und eine geeignete Umwelt reduzieren.

Gibt es also ein Nachhaltigkeitsproblem von dem allerorts und zu jeder Gelegenheit gesprochen wird? Nein – Energie gibt es auf unserem Planeten genug – allein die Sahara mit Fotovoltaikmodulen auszulegen würde mehr als genug Energie zur Verfügung stellen, um uns alle zum Mond und zurück zu bringen. Die benötigten chemischen Elemente, die Lebewesen brauchen, lassen sich ebenfalls in ausreichender Menge auf der Erde oder im nahen Weltraum finden. Sie zu bergen braucht allerdings – Energie.

Diese an sich triviale Erkenntnis beruht auf dem zweiten Satz der Thermodynamik. Nach diesem physikalischen Gesetz ist es stets erforderlich, Energie zuzuführen, wenn eine vorgegebene Ordnung aufgebaut und erhalten bleiben soll – etwa eine chemische Verbindung wie das Zuckermolekül oder auch das grundlegende Lebensmolekül DNS, oder auch, etwas größer gedacht, ein Auto. Um ein Auto zu bauen, muss Bergbau betrieben und Eisenerz verhüttet werden – dafür braucht es vor allem: Energie. Man muss Dinge hin und her transportieren – dafür benötigt man Energie. Man muss Fabriken bauen und schließlich Arbeiter dazu bewegen, am Fließband Teile zusammen zu setzen – Arbeiter müssen essen – sie brauchen Energie.

Sie sind nicht überzeugt? Nun, Ihre Skepsis ist berechtigt, weil es noch eine andere grundlegende Ressource gibt, und diese wird auf unserem Planeten tatsächlich in einem Maße verschwendet, die sich die Menschheit – und leider auch das übrige Leben auf diesem Planeten – nicht leisten kann: Information. Und zwar Informationen in einer ganz bestimmten Form, ich nenne sie hier einmal: Wissen! „Gewusst wie“ kann jedes Problem, dass die Menschheit z.Z. als Ganzes hat, lösen: Es gibt genug zu essen für jeden auf dieser Welt, wir müssen es nur richtig managen. Wir müssen die Atmosphäre nicht weiter mit CO2 anreichern, jedenfalls nicht mehr in naher Zukunft, denn wir verfügen über das Wissen, alternative Energiekreisläufe zu etablieren. Und wir können uns auch so etwas luxuriöses leisten wir Umweltschutz und Biodiversität – wir müssen es nur richtig anpacken. Und dafür benötigen wir nur das: das richtige Wissen, denn Energie gibt es, wie gesagt, im Überfluss.

Einleitung II

Am 24. Februar 2022 begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine, angeordnet von Wladimir Wladimirowitsch Putin – und – die Welt war überrascht davon! Die Frage, sei erlaubt: wie konnte uns dieser Krieg so überraschen? Naturwissenschaftler können exakt berechnen, wann die nächste Sonnenfinsternis sein wird, sie können vorhersagen, wo und wann ein Hurrikan auf die Ostküste der USA treffen wird, der sich über dem Atlantik zusammenbraut und sie können sogar Fahrzeugen auf dem Mars steuern. Die geistige Elite des Westen, überwiegend geisteswissenschaftlich ausgebildet, aber konnte zu großen Teilen nicht vorhersehen, wie sich ein Gewaltherrscher entscheiden würde, der über Wochen Soldaten und Kriegsgerät an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht.

Die Naturwissenschaften können sich auf verlässliche Naturgesetze stützen. Im Gegensatz dazu unterliegt die menschliche Kultur scheinbar keinem Regelwerk. Daher entziehen sich menschliche Entscheidungen in einem Kulturraum der Vorhersage. Aber stimmt das wirklich? Darwin meldete erste Zweifel an, indem er den Menschen in eine Entwicklungsreihe mit Ahnen aus dem Tierreich stellte. Der Mensch ist ausgestattet mit ähnlichen Genen, Organen und Gehirnen, wie wir sie mindestens bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen finden. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Ethologie, aus der Psychologie und aus der Hirnforschung zeigen: Der Mensch ist auch geistig gesehen kein Alien auf dieser Welt. Aus Sicht der Biologie hat sich unser Geist zusammen mit dem Körper in einem evolutionären Prozess entwickelt. Der Entwicklungsprozess lässt sich bis zu den Anfängen des Lebens zurückverfolgen. Es ist daher naheliegend, die menschlichen Entscheidungen zumindest nicht gänzlich losgelöst von der Natur zu betrachten – es ist anzunehmen, dass auch dem menschlichen Handeln letztlich biologische Gesetzmäßigkeiten zu Grunde liegen.

Die Ökonomen scheitern immer wieder mit ihren Vorhersagen, wenn sie annehmen, der Homo oeconomicus als Model des H. sapiens würde streng rational und eigeninteressiert handeln. Der Blick hinüber in die Psychologie, Hirn- und Verhaltensforschung würde ihnen zeigen, der Mensch ist eben kein H. oeconomicus. Und ebenso war die Annahme der Humanwissenschaftler, in Wladimir Putin dem H politicus zu sehen, der streng rational handele, sicherlich ein Trugschluss. Eine engere Anbindung an die Psychologie und die Hirnforschung hätte bei Politologen vielleicht zu einer anderen Einschätzung bezüglich der Kriegsgefahr geführt.

Das Dilemma wurde ebenso in der Covid-19-Pandemie offenkundig, während der die naturwissenschaftlich orientierten Forscher rasche Antworten auf die Bedrohung fanden, indem sie Impfstoffe entwickelten und pandemische Ausbreitungsmodelle zur Verfügung stellten. Die Sozialwissenschaftler aber standen recht ratlos vor dem Phänomen der Covid-Leugner. Und auch konnten die Politwissenschaftler in Deutschland keine verlässlichen Wege aufzeigen, über die eine Impfkampagne genügend viele Menschen erreichte.

Wenn wir den Fortschritte der Sozialwissenschaften mit z.B. denen der Mediziner vergleichen, sehen wir einen dramatischen Fortschritt in der Heilkunst und nur sehr mäßige Fortschritte in den Sozialwissenschaften. Edward Wilson führt das auf den Grad der Vernetzung zurück: Während die Medizin eine globale Wissensgemeinde mit regem Austausch ist, die sich mit Virologen, Epidemiologen, Neurobiologen oder Molekulargenetikern bestens verständigen können, und zu deren Grundverständnis die Chemie genauso gehört wie die Biologie, ist der Vernetzungsgrad in den Humanwissenschaften eher gering und des Öfteren von bitteren ideologischen Streitigkeiten überschattet. Selbst untereinander sind „Anthropologen, Ökonomen, Soziologen und Politwissenschaftler […] in aller Regel nicht imstande, einander zu verstehen oder gar zu ermutigen.“[1] Und insbesondere grenzen sich diese Wissenschaften bewusst von den Naturwissenschaften ab.

Fakt ist, wir benötigen dringend Geisteswissenschaften, die Handlungsoptionen entwickeln können, die für die Weiterentwicklung der Menschengemeinschaft erforderlich sind. Statt dessen sehen wir uns z.Z. in vielen Staaten einem Populismus gegenüber, der in bedrohlicher Weise die demokratischen Grundordnungen gefährdet und der sich als Wissenschaftsgegner profiliert, ohne dass wir eine solide geisteswissenschaftliche Antwort darauf hören: Wie ist es möglich, dass in Amerika eine so große Anzahl an Bürgern Donald Trump wählen konnten, wie kann es sein, dass in Frankreich eine Rechtspopulistin fast die Präsidentenschaft gewinnt, eine Mehrheit in Russland hinter Wladimir Putin und seinen Krieg in der Ukraine steht? Wir werden keine Antworten finden, wenn ein Großteil der Kulturwissenschaftler weder untereinander noch mit den Naturwissenschaftlern wissenschaftliche Erkenntnisse austauscht – es herrscht Babylon.

Babylon

„Und die ganze Erde hatte ein und dieselbe Sprache und ein und dieselben Wörter. […] Und sie sagten einer zum anderen: Auf, lasst uns Ziegel streichen und hart brennen! Und der Ziegel diente ihnen als Stein, und der Asphalt diente ihnen als Mörtel. Und sie sprachen: Auf, wir wollen uns eine Stadt und einen Turm bauen, und seine Spitze bis an den Himmel! […] Und der HERR fuhr herab, um die Stadt und den Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle, und dies ist ⟨erst⟩ der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts unmöglich sein, was sie zu tun ersinnen. Auf, lasst uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass sie einer des anderen Sprache nicht ⟨mehr⟩ verstehen! Und der HERR zerstreute sie von dort über die ganze Erde; und sie hörten auf, die Stadt zu bauen.“[2]

Auch wenn diese Geschichte aus der Bibel so nie stattgefunden hat, lässt sie etwas sehr Wichtiges vermuten: Selbst Gott würde zugeben, dass uns Menschen fast nichts unmöglich zu erreichen ist, wenn wir nur kooperativ daran arbeiten. Und als elementarste Voraussetzung für diese Zusammenarbeit gilt: Große Vorhaben können nur gelingen, wenn alle dieselbe Sprache sprechen. Das gilt im besonderen Maße für den wissenschaftlichen Diskurs – Natur- und Geisteswissenschaften verstehen sich nur schlecht oder gar nicht. Dieselbe eine (wissenschaftliche) Sprache wiederzufinden, ist letztlich das Ziel dieses Buches. Der Weg dahin führ über eine Theorie, die Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften miteinander versöhnt.

Kultur galt lange als die besondere Errungenschaft, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Wenn aber immer deutlicher wird, dass der Mensch weniger ein geistiges, metaphysisches Wesen als vielmehr ein natürliches Lebewesen ist, werden auch die Geisteswissenschaftler zwangsläufig immer mehr zu Naturforschern. Anders herum gibt es in der Verhaltensforschung einen eindeutigen Trend hin dazu, auch Tieren eine eigene Kultur zuzugestehen – Biologen werden zu Kulturforschern. Werkzeuggebrauch ist mittlerweile bei vielen Tierarten nachgewiesen und selbst so ein einfaches Insekt wie die Honigbiene beherrscht erstaunliche mathematische Fähigkeiten.

Kultur als biologisches Phänomen zu begreifen, das sich wie die Gene in einer Gemeinschaft vererbt, wurde in den 70er Jahren schon einmal von Richard Dawkins zur Diskussion gestellt. Der Versuch scheiterte noch, vor allem mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse. Übrig blieb der Begriff „Mem“ für ein sich „viral“ im WWW verbreitenden Nachricht.

 

 

Ein neuer Versuch, Erbbausteine (Gene) und Kulturbausteine (Meme) als zusammengehöriges Erbe von Organismen zu begreifen, lohnt sich, weil damit die Kulturwissenschaften anschlussfähig an die Naturwissenschaften werden und – diese Idee führt uns zu überraschenden neuen Erkenntnissen über das Verhalten von Menschen.

[1] Wilson 2000, S. 244

[2] 1.Mose 11, Elberfelder Bibel

© Peter-Paul Manzel