„SoftGene – wie die Evolution unsere Kultur hervorbringt.“

Hauptteil III: Kultur als Anpassung der Umwelt

Kultur als Anpassung der Umwelt

Um „Meme“ besser verstehen zu können, müssen wir klären, was Kultur, die sich angeblich so fundamental von der Natur unterscheidet, überhaupt ist. Meiner These nach sind Kulturbausteine die Fortführung der Evolution der Gene mit anderen Mitteln. Die Evolution bevorzugt über die Selektion eine möglichst gute Anpassung an die Umwelt. Wie ich gleich ausführen werde, gibt es aber auch den umgekehrten Weg – Lebewesen gestalten sich ihre Umwelt nach den eigenen Bedürfnissen um.

Wonach sich die Anpassung an die Umwelt zunächst zu richten hat, geben die physikalischen Gesetze vor. Organismen haben seit Anbeginn ihrer Existenz die Gegebenheiten einer „realen“ Umwelt ergründet, fitnessrelevante Informationen über die Welt zusammengetragen und sie an die nachfolgende Generationen weitergegeben. Die physikalischen Gesetze der Umwelt werden von Lebewesen bereits dort reflektiert, wo ein Fisch stromlinienförmig gestaltet ist, um mit minimalsten Reibungsverlusten durch das Wasser zu schwimmen, oder wo die Knochen eines Vogels so leicht und gleichzeitig stabil gebaut sind, dass er sich in die Luft schwingen kann. Ganz verschiedene Tierstämme bzw. -klassen wie Fische, Säugetiere oder Vögel haben in ihrer Entwicklung zu Haien, Delphinen oder Pinguinen die Gesetze der Hydrodynamik „erforscht“ und diese Erkenntnisse in den Bau eines stromlinienförmigen Körpers einfließen lassen. Und genauso haben Pterodaktylus, Libelle, Albatros und Fledermaus lange vor Otto Lilienthal die Gesetze der Aerodynamik analysiert und in einen funktionsfähigen Flugkörper umgesetzt. Und weil die Wahrnehmung von Licht nahezu unverzichtbar ist, haben unterschiedlichste Spezies mindestens 50 verschiedene Augentypen hervorgebracht.

Anpassung an die Umwelt bedeutet physikalische Zusammenhänge zu verstehen und Ingenieurskunst. Wie kompetent das in der Natur gespeicherte Wissen über die Physik ist, sehen wir daran, dass Ingenieure im Fachgebiet Bionik versuchen, die Lösungen für bestimmte technische Probleme in der Tier- und Pflanzenwelt zu finden. So werden z.B. die Verdickungen von Verästelungen bei Bäumen erforscht, um dieses Wissen in der Architektur einzusetzen.

Angepasstes Verhalten

Bei der Anpassung an die Umwelt ging es nie nur um den Körperbau, sondern auch um die Handlungssteuerung. Denn Organismen benötigen nicht nur einen an die Umwelt angepassten Körperbau, sondern auch ein an die Umwelt angepasstes Verhalten. Flügel nutzen wenig, wenn man beim Fliegen immer überall vorknallt. Und wie schwierig es ist, eine neuronale Steuerung für das zweibeinige Gehen zu erwerben, zeigen uns Kleinkinder bei ihren Versuchen, Laufen zu lernen. Vor einem ähnlich komplexen Problem stehen Ingenieure, wenn sie die Steuerung für Roboter programmieren, die sich auf zwei Beinen fortbewegen sollen.

Die Umwelt lenkt das Verhalten ihrer tierischen Bewohner in ähnlicher Weise, wie wir es auch bei uns Menschen beobachten können, wenn es z.B. um das Essen oder die Aufzucht des Nachwuchses geht. Eine Studie um den Ökonom Toman Barsbai[1] konnte in 14 von 15 untersuchten Lebensbereichen Übereinstimmungen entdeckten, so z.B. in der Größe der zusammenlebenden Gruppen, der Zahl der Geschlechtspartner und im sozialen Gefüge. „Lebten die Jäger und Sammler einer Region in sozialen Hierarchien, traf das auch vermehrt auf die Tiere zu. Bekamen die Menschen früh Kinder, tendierten die benachbarten Tiere ebenfalls dazu. Und zogen die Eltern den Nachwuchs gemeinsam groß, war es bei den Tieren häufig ähnlich.“[2]

Der neuronale Erkenntnisapparat von Tier und Mensch ist aus der Notwendigkeit heraus selektiert worden, überlebenswichtige Informationen über die Umwelt zu sammeln, zu interpretieren und in Handlungen umzusetzen. Grundlage für Verhalten sind Informationen und Informationsverarbeitung, und so hat die Evolution alle höheren Organismen mit Reizleitungen und Sinnesorganen ausgestattet. Die eingehenden relevanten Umweltreize werden von einem hocheffizienten neuronalen Netz ausgewertet und zusammen mit den genetischen Informationen in Verhalten umgesetzt. Artspezifische Verhaltensmuster treten bei allen höheren Lebewesen auf. Sie sind vielfach genetisch bedingt und haben sich über viele Generationen hinweg bewährt. Schon Insekten mit ihren kleinen neuronalen Netzen, wie z.B. Wespen, bringen Erstaunliches zuwege: Sie beherrschen, kaum aus der Wabe geschlüpft, perfekt die Kunst der Papierherstellung und die Anfertigung der arttypischen Wabennester. „Fallstirnschwalben, die in Südafrika leben, konstruieren aus nasser Erde Kugelnester mit einem kleinen, runden Einflugloch. Keine der dazu erforderlichen, teils nicht einfachen Verhaltensmuster erlernen die Vögel.“[3] Zu diesem angeborenen Verhalten kommt das erlernte: Selbst so ein einfaches Lebewesen wie die kleine Schwarzbäuchige Fruchtfliege (Drosophila melanogaster), ein Lieblingstier der Genetiker, ist in der Lage, aus ihren Erfahrungen zu lernen. Je komplexer die Herausforderungen der Umwelt für ein Lebewesen sind, desto weniger hilft starres ererbtes Verhalten. Zur überragenden evolutionären Antwort auf die sich stetig ändernden Umweltbedingungen wurde Intelligenz. Das gilt insbesondere für ein Individuum in einem sozialen Umfeld. Und so meinen einige Verhaltensforscher, dass die Triebkraft für die Evolution der Intelligenz genau dort zu suchen sei: Dort, wo ein einzelnes Tier seine Artgenossen einschätzen und sich entsprechend daran angepasst verhalten muss, wird die wichtigste Umweltkomponente für ein Lebewesen das soziale Umfeld.[4]

[1] Barsbai 2021

[2] Gelitz 2021 (3)

[3] Heinrich, B. & Bugnyar, T. 2007, S. 27

[4] vgl. Heinrich, B. & Bugnyar, T. 2007, S. 27

Globales Miteinander

Anpassung an die Umwelt ist die Einpassung in ein Geflecht von gegenseitigen Abhängigkeiten und Interaktionen. Auf der heutigen Erde sind alle Landlebewesen u.a. auf eine sauerstoffhaltige Atmosphäre angewiesen und auf ein kuscheliges Klima irgendwo zwischen -20 °C und +50 °C. Eine Maus könnte auf dem Mars nicht überleben. Ihr würde u.a. Sauerstoff fehlen, weil es keine Pflanzen gibt, die Sauerstoff produzieren. Sie hätte aus demselben Grund auch keine Nahrung. Höher entwickeltes Leben ist solitär nicht vorstellbar. Und so war auch auf der Erde die Besiedlung des Landes nur im Verbund von Pilzen und Pflanzen gemeinsam möglich und alle Lebensformen zusammen stabilisieren Temperatur und Atmosphäre der Erde. Das Leben hat sich auf der Erde seine ganz eigene Umwelt geschaffen, in gegenseitiger Abhängigkeit. „Gaia“, James Lovelocks Begriff für das globale Ökosystem, ist ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten.[1] Sauerstoff wird von Pflanzen produziert und Tiere veratmen diesen Sauerstoff wieder zu CO2. Verschiedene Arten von Organismen hängen über Nahrungsketten zusammen. Produzenten, wie die Bäume, bauen Holz auf und Destruenten, wie die Pilze, zersetzen das Holz wieder. Alles in der Biosphäre ist mit allem anderen untrennbar verwoben. Das gesamte globale Ökosystem, Gaia, ist ein gewaltiges Räderwerk. Umwelt und Organismus sind also schon aus diesem Grund schwer zu trennen, weil jeder Organismus für andere Organismen Umwelt darstellt. Aber es ist noch verwirrender und führ uns später zu einer eleganten Definition von Kultur.

Aus der einfachen physikalische Tatsache heraus, das Actio gleich Reactio ist, folgt, dass jedes Lebewesen auf seine Umwelt einwirkt, und sie damit verändert. In der afrikanischen Savanne halten Elefanten den Baumbewuchs nieder und schaffen so erst diese grasbestandenen Landschaft als Lebensraum für Antilopen und Zebras. Als man im Yellowstone-Nationalpark in den USA 1995 Wölfe ansiedelte, weil sich die Wapiti-Hirsche dort zu sehr vermehrten, kamen überraschender Weise auch die Biber dazu: Die Hirsche mieden wegen der Wölfe unübersichtliche Niederungen, in denen sich nun Pappelbäume etablieren konnten, die vorher als Schösslinge von den Wapiti abgeäst wurden. Für diese Bäume interessierten sich nun die Biber.

[1] vgl. Lovelock 1991

 

Tierische Kultur

Wir sind nicht nur aus genetischer Sicht eng verwandt mit Vertretern aus dem Tierreich. Hunde und Ratten empfinden Mitgefühl, Gorillas haben eine Sprache und Schimpansen und Elefanten schließen Freundschaften.[1] Raubtiere lernen von ihren Eltern die benötigten Jagdtechniken und Zugvögel lernen von andreren Artgenossen die besten Routen in die Winterquartiere. Die Zahl Null zu begreifen, ist eine kognitive Höchstleistung. Immerhin wurde die Null als Zahl in Europa erst im 12. Jahrhundert von Leonardo Fibonacci eingeführt. Wissenschaftler waren daher überzeugt, dass es etwas typisch Menschliches sei, die Null als Zahl zu verstehen, eine Fähigkeit, die den Menschen deutlich vom Tier unterscheide. „Doch wie schon beim Gebrauch von Werkzeug, mit dem eben nicht nur Menschen, sondern auch Affen, Krähen und sogar Fische hantieren, stellt sich nach und nach heraus, dass die mathematischen Fähigkeiten von Tieren ebenfalls drastisch unterschätzt worden sind.“[2] – Jedenfalls scheinen Honigbienen das Konzept der Null als leere Menge zu verstehen, wie entsprechende Experimente belegen, Buntbarsche, Stechrochen und natürlich auch die schlauen Bienen können addieren und subtrahieren.[3] Das ist eigentlich nicht überraschend. Wie zu Anfang ausgeführt, sind auf der grundlegendsten Ebene der Umwelt mathematische und physikalische Strukturen zu finden – und daher ist ein Neuronales Netz, das Mathematik beherrscht, einfach nur ein gut angepasstes Gehirn.

Eine mögliche Definition für Kultur lautet: „dass etwas an einem bestimmten Ort nach angebbaren Regeln getan wird und dass für dieselbe Sache an einem anderen Ort ganz andere Regeln gelten können.“[4] Das trifft zwar nicht für die menschliche Mathematik zu, die ist überall auf der Welt im Prinzip gleich und wahrscheinlich sogar im gesamten Kosmos, aber Kultur im Sinne dieser Definition finden wir auch im Tierreich: In den Vororten Sydneys gelingt es Gelbhaubenkakadus immer wieder, Mülltonnen zu öffnen, um dort nach Essensresten zu stöbern. Sie setzen sich an den Rand der Müllbehälter und klappen den Deckel auf. Die Verhaltensforscher konnten „tatsächlich zeigen, dass es sich um ein kulturelles Verhalten handelt. […] Die Kakadus lernen das Verhalten durch Beobachtung anderer Kakadus, und innerhalb jeder Gruppe haben sie ihre eigene spezielle Technik, so dass diese über einen großen geografischen Bereich hinweg unterschiedlich sind.“[5]

Solche kulturellen Verhaltensweisen finden wir natürlich auch bei unseren nahen Verwandten: Schimpansenpopulationen, denen das gleiche Ausgangsmaterial wie Bäume oder Stöcke und ähnliche Nahrungsquellen zur Verfügung stehen, nutzen längst nicht alle – und je nach Population auch unterschiedliche Techniken, die ein Schimpanse beherrschen könnte. Die einen angeln Termiten mit Stöcken, Mitglieder einer anderen Population schlagen hartschalige Nester bestimmter Termiten auf Baumwurzeln entzwei, um an die leckeren Proteinquellen zu gelangen. Welche Techniken bevorzugt werden, bleibt über Generation stabil und wird von den Älteren an die Heranwachsenden weitergegeben.

Können wir also keine wirkliche Grenze zwischen uns und unseren nahen Verwandten ziehen, wird das, was Biologen über Schimpansen berichten, schlüssig: Weil Schimpansen eine ungewöhnlich große Verhaltensvielfalt haben und einige davon nur in bestimmten Gruppen anzutreffen sind und dort von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, sprechen Forscher von Schimpansenkulturen.[6] Langzeitstudien belegen, „dass sozial erlerntes Verhalten innerhalb einer Gruppe von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird und auf diese Art kulturbildend sein kann.“[7]

[1] vgl. Christakis 2019, S. 319

[2] Baier 2018

[3] scinexx.de/news/biowissen/fische-mit-zahlensinn/

[4] Wilson, zitiert nach Stichweh 2006

[5] Schlott 2022

[6] z.B. Blawat 2019

[7] Becker 2021, S. 42

Eine neue Kultur Definition

„Kultur“ ist ein Begriff, von dem wir alle intuitiv glauben, zu wissen, was er bedeutet. Dabei scheint lediglich klar zu sein, woher der Begriff vom Wort her kommt – aus dem Lateinischen. Dort bedeutet cultura: Bebauung, Bearbeitung, Bestellung, Pflege. Cultura wiederum ist eine Ableitung von colere: bebauen, pflegen, urbar machen, ausbilden. In den Kulturwissenschaften wird der Begriff Kultur fast flächendeckend dem Menschen und nur dem Menschen zugeordnet und in einen Gegensatz zur Natur gesetzt. Wie bei allen Abgrenzungen, die nicht gut funktionieren, führen die Versuche der Abgrenzungen immer wieder zu anderen Ergebnissen, nie aber zu einem Eindeutigen: „Zum einen verstehen unterschiedliche Disziplinen (z.B. die Anthropologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Religions- oder Erziehungswissenschaft) jeweils etwas anderes unter dem Begriff „Kultur“. Zum anderen unterscheidet sich das Verständnis von „Kultur“ sowohl innerhalb einzelner Disziplinen und der Kulturwissenschaften als auch in unterschiedlichen Gesellschaften und sozialen Gruppen.“[1] Kultur ist dann beispielsweise das, was der Mensch „von sich aus verändert und hervorbringt, während der Begriff Natur dasjenige umfasst, was von selbst ist, wie es ist.“[2]

Diese Definition ist ein durchaus fruchtbarer Versuch, Kultur zu definieren. Allerdings taugt auch er nicht dafür, den Menschen vom Tier abzuheben, denn viele Organismen gestalten ihre Umwelt direkt nach ihren Bedürfnisse um. Selbst schon „Bakterien sondern Chemikalien ab, um ihre Umwelt für sie freundlicher zu gestalten.“[3] Die im Familienverband lebende Brandts Mongolische Wühlmaus (Lasiopodomys brandtii) hält gezielt Ausschau nach Beutegreifern. Dabei verschaffen sich die Nager freie Sicht, indem sie ausschließlich für den Zweck der Luftraumüberwachung hohes Gras im Umfeld drastisch niederlegen.[4]Wir kennen, bezogen auf „cultura“, Ameisen, die in ihren Bauten Pilze anbauen oder die Läuse melken, wobei sie diese vor Raubinsekten schützen, die also gewissermaßen Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Eichhörnchen betreiben Vorratswirtschaft. Und selbst die Dienstleistungsgesellschaft, die in den Wirtschaftswissenschaften als hochentwickelt gilt, hat im Tierreich Parallelen: Putzerfische entfernen an bestimmten Putzstellen, zu denen Manta-Rochen hinkommen, die Hautparasiten, eine Dienstleistung, die irgendwo zwischen Körperpflege und Hautarzt angesiedelt ist. Der Gebrauch von Werkzeugen hilft auch nicht weiter, kulturelle Leistungen eindeutig dem Menschen zuzuordnen. Krähen, Krokodile und Wespen verwenden solche. Schon gar nicht können wir Architektur zur Abgrenzung anführen. Nestbau ist ein weit verbreitetes Phänomen bei Tieren. Wespen bauen aus Papier, das sie aus zerkautem Holz herstellen, filigrane Waben. Biber bauen Burgen mit raffinierten Zugängen, die sie vor Raubtieren schützen. Termitenhügel verfügt über ein ausgeklügeltes System der Belüftung und der Temperaturregulierung, das die Bewohner vor Austrocknung und vor zu großer Hitze schützt. Menschen konstruieren Häuser mit Heizungen, die ihnen eine eigene kleine behagliche Umwelt selbst im tiefsten Winter schaffen. Dies sind Anpassungen der Umwelt an die Organismen im Gegensatz zur Anpassung von Organismen an die Umwelt. Und hier nun eine daraus folgende elegante Definition für Kultur:

 

Wir können „Kultur“ definieren „als die Veränderungen der Umwelt zum eigenen Nutzen, die ein Organismus durch sein Einwirken erzielt.“

 

Vielleicht umfasst diese Definition nicht jede Art von Kultur, oder auch Dinge, die wir nicht zu Kultur zählen, scheinbar würde z.B. Sprache aus so einer Definition für Kultur herausfallen. Aber schauen wir uns das „dumme Huhn“ genauer an, so entdecken wir verblüfft, dass auch die verbale Kommunikation zunächst einmal keine Erfindung der menschlichen Kultur ist. Und Sinn der Laute bei Hühnervögeln ist, mit ihren Lauten ihre Umwelt, genauer: ihre Mithühner, zu manipuliert. Wie erwähnt sind in einem sozialen Verbund für ein Individuum Artgenossen ein wichtiger Bestandteil der Umwelt. Bei Hühnern fanden die Forscher „24 Laute, die anscheinend bestimmte Ereignisse bezeichnen.“[5] Hühner übermitteln durch ihre Laute und Bewegungen Informationen, die von ihren Artgenossen verstanden werden. Droht eine Gefahr durch einen Habicht, suchen die Hühner Schutz und stoßen sehr leise ein hohes „Iiii“ aus. „Die Signale beziehen sich auf spezifische Objekte und Ereignisse, ähnlich wie menschliche Worte. Anscheinend entsteht durch den Ruf beim Empfänger ein mentales Bild des jeweiligen Objekts und löst die entsprechende Reaktion aus.“[6] Stoßen Hähne auf Futter, reagieren sie mit einer Serie von aufgeregten „Dock-dock“-Lauten – vor allem dann, wenn sie auf ein Weibchen in der Nähe Eindruck machen wollen.“[7] Auch für Menschen dient Sprache fast immer dazu, die soziale Umwelt im eigenen Sinne zu verändern.

Vielleicht fallen einige Jagdtraditionen oder andere Verhaltensweisen von Tieren, etwa wenn sich Orcas auf den Strand werfen, um Seelöwen zu erbeuten, aus dieser Definition noch heraus, und sie muss dahingehend erweitert werden, aber ansonsten wäre so eine Definition von großer Einfachheit und Klarheit: Auf der einen Seite finden wir die Anpassung des Organismus an seine Umwelt (Natur), auf der anderen Seite die Anpassung der Umwelt an den Organismus (Kultur).

[1] Nünning 2009

[2] de.wikipedia.org/wiki/Kultur#Wortherkunft

[3] Christakis 2019, S. 289

[4] Lingenhöhl 2022

[5] Zielinski & Smith 2015

[6] Zielinski & Smith 2015

[7] Zielinski & Smith 2015

Kultur als Umwelt

Es gibt eine langandauernde Debatte darüber, was den Menschen eigentlich prägt und ausmacht. Sind es seine Gene, oder eher seine Kultur (nature vs. nurture)? Die Antwort ist ein klares: Beides! Natur und Kultur zusammen. Biologie und Kultur sind unentwirrbar miteinander verknüpft. Das menschliche Verhalten ist ohne sein evolutionäres Erbe, das ja seine Augen, Ohren und Gliedmaßen und nicht zuletzt sein Gehirn mit einschließt, nicht zu verstehen. Unser Verhalten ist verknüpft mit unseren Genen, der Neurochemie, den Hormonen, unseren Sinnesreizen, der pränatalen Umgebung, den frühkindlichen Erfahrungen, dem allgemeinen Umweltdruck, unserer Erziehung und jegliche Form der darüber hinausgehenden Lebenserfahrung.

Unsere Umwelt besteht zu einem großen Teil aus anderen Menschen, mit denen wir interagieren. Dass Artgenossen für ein Individuum einen bedeutenden Teil der Umwelt darstellen, ist auch im Tierreich weit verbreitet. Schon jede Form der sexuellen Fortpflanzung ist eine Interaktion mit der Umwelt, weil der Geschlechtspartner nicht zum Individuum selbst gehört. Für einen Säugling ist die Mutter der entscheidende Teil seiner Umwelt. Für ein Löwenmännchen ist jeder Rivale um ein Jagdrevier und um die Weibchen eine stete stressinduzierende Umweltbedrohung. Die Umweltrelevanz von Artgenossen wird bedeutender in sozialen Lebensgemeinschaften, wie bei Ameisen oder Honigbienen, bei Wölfen oder Elefanten und den meisten Primaten. Wir Menschen haben unseren Lebensraum so weitgehend umgestaltet, dass diese umgestaltete Umwelt, also unsere Kultur, den Großteil unserer heutigen ökologischen Nische darstellt – Städte und die ISS sind zwei Beispiele dafür. Wie sehr wir uns dabei selbst auch in Koevolution dieser Umwelt angepasst haben, zeigt die folgende plausible Vermutung, die der Archäologe Johannes Krause äußert: „Ein zweiwöchiger Aufenthalt in der Wildnis ohne zivilisatorische Hilfsmittel dürfte heute für die meisten Europäer tödlich enden.“[1]

Wie der Klimawandel uns vor Augen führt, können wir nicht gegen, sondern müssen mit der Umwelt leben, wir müssen uns ihr anpassen. Aber wir können die Umwelt auch zu unseren Gunsten umgestalten, und das ist eine Fähigkeit, die wir auch weit verbreitet im Tierreich finden. Wege aus den drohenden Katastrophen, die der Klimawandel hervorrufen wird, sind deshalb nicht nur Wege des Verzichts, sonder auch innovative technische Lösungen wie das Geoengineering. Der Mensch kann Bedrohungen kollektiv begegnen und völlig neue, nicht vorhersagbare Dinge erschaffen. Wir müssen dem Klimawandel nicht mit der bestehenden Technik begegnen, wir können und werden neue Techniken dafür erschaffen – für die meisten Probleme haben wir sie bereits: Elektromobilität ist ein Beispiel dafür.

[1] Krause 2021, S. 75

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